10. November 2022, 15:49 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Einst war Nagoro auf der Insel Shikoku im Süden von Japan ein florierendes Tal. Doch nach und nach starben die Einwohner oder wanderten auf der Suche nach Arbeit in die Städte ab. Inzwischen sind alle früheren Bewohner zurückgekehrt – in Form von lebensgroßen Puppen. Überall im Tal sind sie verteilt und erschrecken Besucher und Autofahrer, die das Tal auf der Hauptstraße durchqueren. TRAVELBOOK erzählt die Geschichte, die dahinter steckt.
Wer als Ortsfremder über die Hauptstraße durch das Nagoro-Tal fährt, dürfte einen gehörigen Schrecken bekommen: In der sonst recht menschenleeren Gegend tauchen am Wegesrand urplötzlich eine Reihe von Gestalten auf. Bauern starren von ihrem Feld aus auf die Straße. Ein Fahrradfahrer mit Helm beugt sich über eine Leitplanke. Und an einer Bushaltestelle sitzen mehrere Wartende – Alte, Frauen und Kinder. Nur, all diese Leute sind völlig reglos. Willkommen in Nagoro, dem Tal der Puppen!
In einem kleinen japanischen Blog hatte der Berliner Fotograf und Journalist Fritz Schumann bereits vor einigen Jahren über das eigentümliche Dorf gelesen und über die alte Frau, die die Puppen als Ersatz für ehemalige Dorfbewohner erschaffen habe. Von Hiroshima aus machte sich Schumann, der zu diesem Zeitpunkt in Japan lebte, auf den Weg in die 8 bis 10 Stunden entfernte bergige Gegend auf der Insel Shikoku. „Ich wusste weder, wo genau der Ort ist, noch ob die Dame überhaupt noch lebt“, erzählt der Fotograf rückblickend.
Einst lebten und arbeiteten Hunderte Menschen in Nagoro
Er hatte Glück: Während einer Rast lernte der Deutsche jemanden kennen, der mit der Puppenmacherin befreundet war – und der ihm eine Karte mit der genauen Wegbeschreibung zeichnete. Und so fand Schumann das Dorf – sowie die Frau, nach der er suchte. „Je näher wir ihrem Haus kamen, desto mehr Puppen sahen wir am Wegesrand. Als wir davor standen, gab es keinen Zweifel mehr“, erzählt Schumann im Interview mit TRAVELBOOK.
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Tsukimi Ayano, heute 72 Jahre alt, lebte schon als Kind in Nagoro. Damals gab es dort einen Damm, eine große Firma und viele Arbeitsplätze. Hunderte Menschen lebten in dem Tal. Doch die Firma machte irgendwann dicht, die Einwohner von Nagoro zogen auf der Suche nach neuer Arbeit fort. Auch Tsukimi Ayano ging nach Osaka. Vor 16 Jahren dann zog es sie zurück in ihre alte Heimat. Doch diese hatte sich sehr verändert. Nur 37 Menschen lebten noch in Nagoro.
Tsukimi Ayano hat mehr als 350 Puppen erschaffen
Tsukimi Ayano hatte nichts zu tun, sie langweilte sich. Denn selbst die verbliebenen Bewohner waren tagsüber nie da, waren zum Saufen oder Glücksspielen in der benachbarten Präfektur. Ein Jahr nach ihrer Rückkehr bastelte sie die erste Puppe, die zunächst als Vogelscheuche für ihr Feld gedacht war, auf dem nichts wuchs, weil die Vögel die Saat wegpickten, bevor sie Wurzeln schlagen konnte. Diese Puppe, sie ähnelte Tsukimis Vater. Und damit fing alles an.
Inzwischen hat Tsukimi Ayano mehr als 350 lebensgroße Puppen erschaffen. Die meisten von ihnen stellen ehemalige Dorfbewohner dar. „Wenn ich Puppen von toten Menschen mache, dann denke ich an sie – wie sie waren, als sie noch gelebt haben und gesund waren“, sagt Tsukimi Ayano in einem Video-Interview, das sie Fritz Schumann gegeben hat. „Die Puppen sind wie meine Kinder.“
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„Wirklich beklemmend“
Sie sind überall im Tal verteilt: Am Fluss sitzt ein Angler mit Gummistiefeln, im Baum ein Jäger mit Gewehr. Ihre frühere Nachbarin steht mit Rasenmäher auf der Wiese und ein altes Ehepaar sitzt auf einer Bank an der Straße. Die meisten Puppen aber befinden sich in der alten Schule im Ort, die vor zwei Jahren geschlossen hat. Lehrer, der Direktor, Kinder an Schulbänken. Sogar eine beschriebene Schultafel gibt es. Die Kinder halten Stifte in der Hand und auf dem Pult stehen frische Blumen. Alles soll so aussehen, als sei hier noch Leben vorhanden.
Zwei Stunden war der Fotograf und Journalist Fritz Schumann allein in dem alten Schulgebäude, um alles zu fotografieren. „Dort war es dann wirklich beklemmend“, sagt er. „Ich hatte zweimal das Gefühl, jemanden im Augenwinkel zu sehen, der mich beobachtet. Dabei war es nur eine Puppe. Es war sogar beide Male die gleiche Puppe.“
Touristen bringen wieder Lebens ins Dorf
Tsukimi Ayano weiß, dass nicht jeder ihre Stoffgestalten mag. „Manche haben Angst vor ihnen, weil sie so real aussehen“, sagt sie. Für sie aber sind die Puppen enorm wichtig: Sie sind ein Mittel gegen die Einsamkeit. Und: Sie hat endlich einen Zeitvertreib. Weil die Exemplare, die draußen stehen und somit schutzlos der Witterung ausgesetzt sind, maximal drei Jahre „überleben“, muss die Japanerin ständig für Nachschub sorgen.
Inzwischen ziehen die Puppen von Tsukimi Ayana übrigens immer mehr Touristen an. Es gibt Touren in das kleine Dorf, wodurch wieder etwas Leben in das fast ausgestorbene Tal kommt.