
29. Juni 2025, 14:27 Uhr | Lesezeit: 11 Minuten
Wenn sich der Vorhang hebt und die Scheinwerfer angehen, verwandelt sich London in eine andere Welt. Die Westend-Bühnen sind Heimat großer Gefühle, mitreißender Musik und oft auch ganz schön viel Humor. Wer in London ist, muss einfach in eine dieser Shows. Aber welche? London-Expertin Doris Tromballa stellt ihre fünf Musical-Highlights vor.
Ja, es gibt sie, die Klassiker: „Les Misérables“, „The Phantom of the Opera“, „Harry Potter and the Cursed Child“ – große Namen, große Produktionen, große Gefühle. Und sie sind zu Recht Publikumsmagnete im Londoner West End. Aber: Wer denkt, das sei schon alles, was die Musicalwelt der britischen Hauptstadt zu bieten hat, verpasst vielleicht das Beste. Hier kommen fünf Musicals, die mich absolut umgehauen haben – und die jeder sehen sollte, der bereit ist, sich auf etwas Neues einzulassen. Versprochen: Es lohnt sich.
Übersicht
Meine 5 Musical-Highlights in London
„Hamilton“ – Geschichte, die groovt
Was passiert, wenn man die Gründungsjahre Amerikas mit Hip-Hop mixt? Man bekommt Hamilton. Keine Angst: Das Musical ist kein historischer Vortrag mit Kostümperücke – sondern ein energiegeladener musikalischer Mega-Mix. Eine Show, die das politische Fundament der USA mit Wortwitz und Bühnenmagie verbindet.

Die Story? Alexander Hamilton, ein Waisenkind aus der Karibik, kämpft sich nach New York durch und wird zum Mitgründer einer Nation. Auf dem Weg begegnet er George Washington, seinem späteren Todesfeind Aaron Burr und der Liebe seines Lebens. Doch so faszinierend die Geschichte ist – das eigentlich revolutionäre ist die musikalische Umsetzung: Der Stilmix holt auch Leute ins Theater, die mit Musicals sonst eher wenig anfangen können. Rap, R’n’B, Pop und Soul, bei dem selbst Beatles-Anklänge durchklingen, alles dabei. Dazu liefert „Hamilton“ viel zum Nachdenken, über große Träume, schwere Entscheidungen und eine Welt, die sich ständig verändert. Dennoch schafft es das Stück, im ersten Akt das ganze Victoria Palace Theatre zum Lachen und Mitsingen zu bringen – das Publikum kennt die Texte oft auswendig. Im zweiten Akt wird’s dann hochdramatisch, da habe auch ich das eine oder andere Tränchen verdrückt.
Must-See, weil …
Ich war ziemlich skeptisch, weil ich Hip-Hop eigentlich nicht besonders mag. Deswegen habe ich mich offen gestanden lange gegen Hamilton gesträubt. Aber die Show liefert einen wirklich außergewöhnlichen musikalischen Mix aus Rap und Gesang, der auch mich als Nicht-Hip-Hopperin richtig begeistert hat!
„The Devil wears Prada“ – Fashion-Spektakel mit Tiefgang und Starbesetzung
Der Roman über die brutalen Arbeitsbedingungen bei einem Modemagazin von Lauren Weisberger war 2003 ein Welthit. Die Verfilmung 2006 brachte Meryl Streep sogar eine Oscar-Nominierung ein. Und seit Oktober 2024 ist die „Teufelin“ mit Weltstar Vanessa Williams („Save the best for last“) in der Titelrolle im Dominion Theatre in London zu Gast. Im Zentrum steht die Figur der New Yorker Jungjournalistin Andrea, die mehr zufällig als gewollt Assistentin der legendären Miranda Priestly wird, der Chefredakteurin des fiktiven Modemagazins „Runway“. Ihr dröger, aber stressiger Alltag besteht aus Kaffeeholen und niedrigen Dienstbotengängen für die exzentrische Chefin. Während sie die Augen verdreht über die oberflächliche Glamour-Welt, erklärt ihr ihre dauergestresste, mega-ehrgeizige Kollegin Emily, dass sie sich gefälligst mehr anstrengen soll – „Es ist ein Privileg, hier einen Burn-out zu bekommen!“

Wer jetzt auf grandiose Kostüme hofft – schließlich geht es um die glitzernde Welt der Mode – dem kann ich versprechen: Die gibt es, dass einem die Augen übergehen! Ich habe wohl noch kein Musical gesehen, in dem die Darsteller so oft die Klamotten wechseln. Und es ist alles dabei: vom coolen Büro-Chic über knallbunte, psychedelische Kleiderschrank-Träume bis zur extravaganten Haute Couture auf dem roten Teppich. Bei all dem sollte die Musik nicht vergessen werden: Die hat Elton John komponiert. Sie verlangt ihren Darstellern wirklich alles ab, und die liefern: Vanessa Williams megacoole, rauchige Stimme lässt einem einen Schauer über den Rücken laufen, während Georgie Buckland (Andrea) einen mit ihrer hingebungsvollen Stimmgewalt förmlich in den Sessel drückt. Mein Liebling war allerdings Emily (Amy di Bartolomeo), die dauernd kurz vor dem Nervenzusammenbruch ist und alle panisch brabbelnd durch die Flure des Zeitungsverlags scheucht.
Must-See, weil …
Weltstar-Klasse (Elton John, Vanessa Williams) trifft auf Glamour und Gesellschaftskritik – wer eine leichte Komödie erwartet, wird überrascht. Hier geht es um Ambitionen, Selbstverwirklichung und ob die Aufopferung für den „perfekten Job“ wirklich so eine gute Idee ist.
„Back to the Future“ – Zeitreise mit 140 km/h
Platz nehmen, anschnallen, los geht’s: „Back to the Future“ ist die Musical-Version des 80er-Jahre-Kultfilms. Für mich war das ein absolutes Muss, einfach, weil dieser Film einer meiner Lieblingsstreifen war (und ist)! Aber kann ein Musical das „DeLorean“-Feeling wirklich in ein Theater holen? Wer lange nicht mehr in einem Musical war, der wird überwältigt sein. Die Produktionscrew hat aus dem Adelphi Theatre in London eine Zeitmaschine gemacht! Schon bevor’s losgeht, fühlt man sich wie in einem Tunnel im Raum-Zeit-Kontinuum: Der Saal wurde durch Lichtstreifen, Einbauten und Projektionen zu einer Show vor der Show.
Dann beginnt die Story, die viele wahrscheinlich kennen: Der Schüler Marty McFly landet mithilfe einer Zeitmaschine des verrückten Wissenschaftlers Doc Brown versehentlich im Jahr 1955. Dort verliebt sich (ausgerechnet!) seine Mutter in ihn, und er muss seinen schüchternen Vater dazu bringen, sie zum Schulball einzuladen, damit das Raum-Zeit-Kontinuum nicht zerreißt – und er nie geboren wird. Währenddessen muss er sich gegen den dümmlichen, aber fiesen Schul-Bully Biff Tannen zur Wehr setzen und seine Zeitmaschine wieder flott machen.
Für die Bühne hat man sich große Mühe gegeben, die kultigen Film-Elemente beizubehalten: Marty auf dem Skateboard, das ausufernde Gitarren-Solo beim Schulball und George McFlys hölzernes Rumgestammel, alles dabei. Den meisten Applaus bekam, wenig überraschend, Cory English als Doc Brown: Einmal besingt er liebevoll-leise all die Wissenschaftler, denen der große Durchbruch nicht gelungen ist, dann feiert er sich und seine Erfindung fulminant mit Discokugel und einer Heerschar ihn anhimmelnder Tänzerinnen und Tänzern. Heimlicher Publikumsliebling ist Ekelpaket Biff Tannen, der sich in seinem top-10-tauglichen Song „Something About That Boy“ über Marthy McFly schwarzärgert. Und zum Schluss versteht man, warum die vorderen Plätze so teuer sind – denn das Finale ist ein Showdown, bei dem ich fast aus dem Stuhl gekippt bin. Aber mehr verrate ich natürlich nicht.
Must-See, weil …
100 Prozent Nostalgie-Faktor, eine Zeitreise mit 140 km/h! Und natürlich mit den weltberühmten Filmsongs „The Power of Love“ und „Johnny B. Goode“.
„Starlight Express“ – Zugkraft 2.0
Der „Starlight Express“ rollt eigentlich schon wirklich lange über die internationalen Musical-Bühnen: Vor mehr als 30 Jahren war Premiere in London. Nun ist das kultige Rollschuh-Musical zurück, komplett runderneuert. Sogar ein neues, eigenes Theater hat man in London für das Stück gebaut!
Das Musical hat gar nicht viel Handlung: Es geht um eine alte Dampflok, die in einem Rennen gegen andere, viel modernere Züge antritt. Zwischen Selbstzweifeln und Zuversicht begibt sich Zug „Dusty“ auf die Strecke, um sein Glück zu versuchen. Dennoch war die fulminante Rollschuh-Show von Star-Komponist Andrew Lloyd Webber ein Welterfolg: Nach London gab es auch eine Version am New Yorker Broadway – und in Bochum entstand das „Starlight Express Theater“, in dem das Musical seit 1988 läuft, und damit den Rekord für die längste Spielzeit eines Musicals an einem Ort hält. Vor vielen Jahren habe auch ich dort „Starlight Express“ gesehen. Deswegen war ich sehr gespannt, wie man die Neuauflage in London gestaltet hat. Neue Kostüme, neue Songs, ein komplett neues Theater – klappt das?

Tschu-tschuuuu – Volldampf voraus! Ja, es klappt! Der „Facelift“ hat aus „Starlight Express“ ein hypermodernes 360-Grad-Spektakel gemacht. Nicht nur bei den Kostümen reibt man sich die Augen (blinkende LEDs, riesige, aufblasbare Teile in den Anzügen), auch die Figuren sind jetzt auf der Höhe der Zeit. Neu (und mein Favorit) ist insbesondere der Waggon „Hydra“, der Wasserstoff geladen hat (Jaydon Vijn). Der preist sich lässig und selbstbewusst in einem Elektro-Hip-Hop-Song selbst an: Es sei keine Frage, ob, nur eine Frage, wann man das umweltfreundliche Zukunftspotenzial seiner Ladung endlich erkennen würde. Dazu kommen die Stunt-Darsteller, die sich mit Tretrollern auf der bühneneigenen Halfpipe überschlagen, sodass das Publikum vor Aufregung den Atem anhält. Wenn beim Zug-Rennen dann die Darsteller wenige Zentimeter am Publikum vorbei über die Rennbahnen flitzen, die durch den Zuschauerraum gelegt sind, fühlt man sich fast wie bei einem Formel-1-Rennen – inklusive Live-Kameraübertragung auf eine Leinwand.
Must-See, weil …
„Starlight Express“ ist jetzt nicht nur Kult, sondern auch cool: Nachhaltigkeit trifft auf Neon-Party. Dazu ist man im neuen „Starlight Auditorium“ fast auf Tuchfühlung mit den Darstellern, richtig mittendrin!
„Tina“ – die Legende lebt!
„Tina – The Tina Turner Musical“im Londoner Aldwych Theatre ist weit mehr als ein Musical, es ist ein musikalisches Denkmal. 2018 hatte es in London Premiere. Das Besondere daran: Tina Turner selbst hat am Musical mitgearbeitet. Schließlich erzählt es ihre höchstpersönliche Geschichte. Und so beginnt die Story im Elternhaus der kleinen Anna Mae Bullock (das war Tina Turners bürgerlicher Name), die nicht selten mit ihren großen Plänen und fantasievollen Ideen aneckt. Sogar in der Kirche bekommt sie Ärger, weil sie angeblich zu begeistert und zu laut singt. Als Teenager lernt sie in einem Club Ike Turner kennen, der mit seiner Band bereits zu einigen Erfolgen gekommen ist. Als er die junge Anna Mae singen hört, engagiert er sie vom Fleck weg als Lead-Sängerin für seine Band. Aus Anna Mae wird Tina Turner. Und Ike wird ihr Ehemann. Das Musical nimmt sich viel Zeit, die Höhen und Tiefen aus Tina Turners Leben zu erzählen: Ikes Misshandlungen und Affären, die zehrenden Konzerttouren, schließlich die Flucht vor den Grausamkeiten und der Neuanfang, bis Tina endlich als Superstar bei einem Mega-Konzert alle von den Stühlen reißt.
Und genau das passiert bei „Tina – The Musical“: Karis Anderson performt die Bühnen-„Tina“ so stimmgewaltig, dass ich mich am Schluss völlig geplättet gefragt habe, wie ein Mensch zweieinhalb Stunden lang so abliefern kann. Ihre Stimme trägt durch Gänsehaut-Balladen, röhrende Rocknummern und ekstatische Finalsongs – so kraftvoll und authentisch, dass man fast vergisst, dass da nicht Tina selbst auf der Bühne steht. In einem Interview hat Anderson geschildert, wie glücklich sie war, als sie die Titelrolle ergattert hat – und gleichzeitig wie nervös: „Private Dancer“, „Proud Mary“ und „The Best“, das sind kräftezehrende, anspruchsvolle Songs. Ihre Strategie gegen die Nervosität: „Immer schön ein Song nach dem anderen…“
Einziger Wermutstropfen: Bei der Aufführung wird man gebeten, nicht mitzusingen. Fällt schwer, bei diesem Hitfeuerwerk. Aber ist wahrscheinlich wirklich besser so. Und bei der Zugabe, die sich tatsächlich anfühlt wie ein echtes Tina-Konzert, da darf man dann! „Better than all the rest!“ Natürlich wird Ike Turner bei der Applausordnung ausgebuht – ist aber bestimmt nicht persönlich gemeint. Darsteller Rolan Bell liefert nämlich eine mega-starke Performance.
Must see weil …
Tina ist einfach eine Legende! Deshalb liefert die Show nicht nur Ohrwurm-Garantie, sondern auch eine Geschichte, die unter die Haut geht. Dazu sind viele von Tina Turners Welthits neu und spannend inszeniert und überraschend in die Handlung eingesetzt. Und zum Schluss sitzt niemand mehr auf seinem Stuhl, garantiert! Ach ja: schnell sein. „Tina – the Musical“ läuft nur noch bis zum 13. September in London, dann geht die Show auf Tour.
So kommt man günstig an Musical-Tickets in London
Und das Beste? Die Musical-Welt in London schläft nie. Denn es kommen ständig neue Produktionen dazu – gerade ist Disneys „Hercules“ gestartet und die 20er-Jahre-Show „The Great Gatsby“ ist bis zum 7. September zu sehen. Tickets kauft man am besten sehr kurzfristig, über die Website officiallondontheatre.com/tkts. Dort gibt es – teils bis zu 30 Prozent günstiger – Tickets für Vorstellungen am selben Tag. Oder man geht zum TKTS-Häuschen am Leicester Square und holt sich dort die Karten persönlich.