29. September 2018, 11:08 Uhr | Lesezeit: 13 Minuten
Bir Tawil ist eine umstrittene Region zwischen Ägypten und dem Sudan, die aus der kolonialen Grenzziehungspolitik Großbritanniens hervorging. Der US-Amerikaner Jeremiah Heaton setzte 2014 dort seine Flagge, beanspruchte das Land für sich und nannte es Kingdom of North Sudan. Er plant aus Bir Tawil einen echten Staat mit Einwohnern und Landwirtschaft zu machen. TRAVELBOOK hat mit Heaton über sein Vorhaben, aber auch über die Kritik an seinen Pläne gesprochen.
Nach mehreren Tagen Fahrt durch die Wüste erreicht man Bir Tawil. 2000 Quadratkilometer groß, benannt nach einem Brunnen, den es nicht mehr gibt, durchzogen von Wüstensand und einigen wenigen Bergen. Bis auf eine Gruppe von Beduinen gibt es dort keine offiziellen Einwohner. Doch das unscheinbare Gebiet, das sich mit säuberlich gerade gezogenen Landesgrenzen auf der Karte von Ägypten im Norden und Sudan im Süden absetzt, ist seit Jahrzehnten ein Problemfall in der Region, denn: Es handelt sich bei Bir Tawil um „terra nullius“, sogenanntes Niemandsland, das kein Staat für sich beansprucht, nicht besiedelt ist und keiner rechtlichen Hoheit unterstellt ist.
Solche Regionen rufen natürlich Menschen auf den Plan, die dort ihre Chance sehen, eine eigene Nation zu gründen, oder sogar: ein Königreich auszurufen. Der US-Amerikaner Jeremiah Heaton ist einer von ihnen.
2014 nahm er die umständliche Reise dorthin auf sich, steckte eine eigens entworfene Flagge in den Sand und beanspruchte das Gebiet, das immerhin 2,3 Mal so groß wie Berlin ist, für sich. „Damit habe ich auf dem Gebiet von Bir Tawil die Souveränität des Königreichs Nordsudan erklärt. Ich habe auch eine Botschaft gegründet, die das Land ganz offiziell repräsentiert“, sagt Heaton zu TRAVELBOOK.
Bir Tawil ist nicht das einzige Niemandsland der Welt
„Regierungslose“ Gebiete wie Bir Tawil sind auf der Welt eine Seltenheit. Das größte derartige Stück Erde, das von keiner Nation beansprucht wird, ist das Marie-Byrd-Land in der Antarktis. Der US-Amerikaner Travis McHenry erklärte das Land im Jahr 2001 zur Mikronation Westarctica. Er wollte fernab von dicht besiedelten Städten im eigenen Land leben, über 2000 Menschen wollen ihm laut der Homepage bisher folgen. Das Ziel, von anderen Regierungen anerkannt und offizielles Mitglied der UN zu werden, wurde inzwischen überworfen. Seit 2014 ist Westarctica eine in Kalifornien angemeldete Wohltätigkeitsorganisation, die sich für den Erhalt der Antarktis einsetzt.
Warum Jeremiah Heaton ein Königreich gründete
Natürlich ist auch Heatons „Kingdom of North Sudan“ nicht anerkannt, und über seine Pläne, die Gründung des Landes mit Hilfsprojekten für die Region zu verbinden, berichtete praktisch niemand – dafür aber über den Grund, warum er überhaupt auf die Idee kam, das Gebiet für sich zu beanspruchen. Das waren nicht etwa humanitäre Faktoren, sondern seine Tochter. Die damals Siebenjährige hatte den Wunsch geäußert, Prinzessin sein zu wollen. Sie fragte, ob sie diesen Traum jemals in ihrem Leben erreichen könnte?
Jeremiah Heaton wollte sein Kind nicht mit den üblichen Märchen trösten, sondern versuchte sich an einer kreativen Lösung. Dass die ihm eine so große Aufmerksamkeit verschaffen würde, hatte er selbst nicht erwartet. „Erst nachdem ich in Bir Tawil gewesen bin, habe ich einen Facebook-Status abgesetzt, in dem ich die Geschichte von Emilys Wunsch schilderte“, so Heaton zu TRAVELBOOK. „Eine lokale Zeitung wurde darauf aufmerksam und kam auf mich zu. Erst als Associated Press davon erfuhr, wurde meine Geschichte in den Medien weltweit verbreitet.“
Am 16. Juni 2014, Emilys siebtem Geburtstag, rief Heaton eine Monarchie in Bir Tawil aus. Einige sahen in seinem Facebook-Post, mit dem er seine Aktion dokumentierte, die rührende Geste eines liebevollen Vaters, andere kritisierten den US-Amerikaner: Sie warfen ihm eine Banalisierung des Konflikts um das problematische Gebiet vor, und Imperialismus. Ein Weißer, der sich auf afrikanischem Boden zum Herrscher ernennt – das weckte bei vielen böse Erinnerungen.
Warum weder Ägypten noch der Sudan Bir Tawil haben wollen
Das Niemandsland Bir Tawil ist das Produkt der britischen Herrschaft über das nordöstliche afrikanische Gebiet, und 1899 wurde die Grenze zwischen Ägypten und Sudan entlang des 22. Breitengrads gezogen – sie entsprach einer gerade Linie durch die Nubische Wüste bis zum Roten Meer. Doch nur drei Jahre später, 1902, entschieden sich die Briten um und sprachen das damals im Sudan liegende Gebiet des heutigen Bir Tawil den Ägypten zu. Grund war, dass dort die Heimat der Ababde-Nomaden war, die sich Ägyptern zugehörig fühlten. Gleichzeitig wurde das bis dahin ägyptische Hala’ib-Dreieck dem sudanesischen Verwaltungsgebiet zugeordnet, weil dort ein Volksstamm zu Hause war, das kulturell den Sudanesen näher war.
Heute beanspruchen sowohl der Sudan als auch Ägypten das größere, fruchtbare und am Roten Meer liegende Hala’ib-Dreieck für sich. Der Sudan beruft sich auf die Grenzziehung von 1902, Ägypten auf die aus dem Jahr 1899. Seit 2000 ist das Gebiet, wo große Ölvorkommen vermutet werden, von den Ägyptern besetzt. Auf offiziellen Weltkarten der Vereinten Nationen sind die Grenzen um Bir Tawil und das Hala’ib-Dreieck, ähnlich wie es auf Google Maps zu sehen ist, gestrichelt gekennzeichnet. Karten, die in Ägypten oder dem Sudan zu finden sind, ordnen das Dreieck dem jeweiligen Land zu.
Während beide Seiten das Hala’ib-Dreieck für sich beanspruchen, will kein Land Bir Tawil haben. Schließlich wäre das gleichbedeutend mit der Anerkennung einer der beiden Grenzziehungen, von 1899 oder eben 1902. Und so bleibt es eben ein Niemandsland.
Welche Pläne Heaton für Bir Tawil hat
Jeremiah Heaton hat hochtrabende Pläne für das Gebiet. Er möchte das ungewollte Land nutzen, um eine Nation aufzubauen, die sich komplett auf die Wissenschaft beruft. Der Fokus soll auf wissenschaftlichen Methoden liegen, die den Menschen helfen sollen, mit den Folgen des Klimawandels umzugehen. Die vier „Säulen“ seines Königreiches lauten: gesicherte Nahrungsvorkommen durch Innovationen in der Landwirtschaft, effiziente Energienutzung, digitale Freiheit und Privatsphäre sowie finanzielle Unabhängigkeit.
Um diese Ziele zu erreichen, hat der 41-Jährige eine Organisation gegründet und ist seit drei Jahren in Verhandlungen mit Investoren. Zunächst soll im Königreich Nordsudan ein Flugfeld gebaut werden. Damit würde die beschwerliche Anreise der Vergangenheit angehören und Heaton könnte damit beginnen, alle notwendigen Werkzeuge einzufliegen, die er zum Beispiel für die landwirtschaftliche Arbeit benötigt. Des Weiteren soll ein Solarpark aus Photovoltaik-Anlagen entstehen, bei dem Heaton laut eigenen Angaben mit 1,5 Milliarden Dollar unterstützt wird, sofern man den Zahlen Glauben schenken kann.
Der Solarpark soll genug Energie erzeugen, um ein langfristiges landwirtschaftliches Projekt zu stemmen – Stichwort „vertical farming“, das meist seine Anwendung auf Dächern und an Fassaden von Großstädten findet. Vertikale Landwirtschaft würde die Massenproduktion unterschiedlicher Erzeugnisse auf engstem Raum erlauben. Doch nicht alle Nutzpflanzen kommen mit der Hitze zurecht. Doch auch dafür möchte der Amerikaner bald eine Lösung finden.
Zu den weiteren Projekten gehört unter anderen ein Frauenhaus, in dem er Frauen aufnehmen möchte, die beispielsweise der Sklaverei oder Prostitution entkommen sind oder die ihre Heimat verlassen mussten. „Wünschenswert wäre es, eine stabile humanitäre Plattform zu kreieren, die einer stabilen Regierung untersteht und nicht von irgendeiner Religion beeinflusst wird“, findet Jeremiah Heaton.
Er glaubt, dass die Nation viele Menschen aus aller Welt anlocken werde, er könne sich eine Bevölkerung von bis zu 100.000 Personen in den kommenden zehn Jahren vorstellen.
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Was passiert, wenn auch andere in Bir Tawil einen Staat gründen?
Das mag für viele verrückt und unmöglich klingen, gesteht Heaton im Gespräch, doch genau das sei der Grund weshalb er sich aus der Öffentlichkeit insofern zurückgezogen habe, dass es kaum mehr Updates zu den Projekten auf der Homepage des „Kingdom of North Sudan“ oder der Facebook-Seite gebe. „In den Medien wurde immer alles so dargestellt, als wäre das eine irrsinnige Idee. Ich möchte das nicht mehr und verfolge das Projekt nun außerhalb der Öffentlichkeit“, verrät er TRAVELBOOK. Und natürlich will Heaton auch vermeiden, dass noch mehr „Staatsgründer“ nach Bir Tawil kommen.
Denn die Medienpräsenz von Jeremiah Heaton rief auch Nachahmer auf den Plan. Heaton berichtet von einem jungen Inder namens Suyash Dixit, der ihn kontaktiert und mehr über das verlassene Gebiet habe erfahren wollen. Er habe nur Neugierde als Motivation angegeben. Am 6. November 2017 aber habe der Inder in einem Facebook-Post das „Königreich Dixit“ ausgerufen – darin posiert er auf Fotos mit einer Flagge in einer Landschaft, die Bir Tawil ähnlich sieht. Einige Medien berichteten darüber. Laut Jeremiah Heaton war Dixits Aktion nur ein großer Fake. Der Inder hatte nur vorgetäuscht, nach Bir Tawil gereist zu sein. Nachdem er entlarvt wurde, will sich Dixit bei Heaton entschuldigt haben. „Solche leichtsinnigen Unternehmungen machen mein Vorhaben nur komplizierter“, sagt Heaton verärgert.
Doch was würde passieren, wenn tatsächlich jemand nach Bir Tawil reisen und seine Flagge dort platzieren würde? „Da ich der Erste war, der dort sein eigenes Königreich ausgerufen hat, habe ich das Anrecht auf das Land“, sagt Jeremiah Heaton. Doch so ganz stimmt das nicht, um einen Staat zu gründen, muss man drei Voraussetzungen erfüllen: Es benötigt ein Gebiet, eine Regierung und eine Bevölkerung. Daran arbeitet Jeremiah Heaton und verstößt damit gegen keine Gesetze. Seine Pläne und Vorhaben können sich aber in kürzester Zeit zerschlagen, wenn ihm jemand zuvorkommen sollte oder eben Ägypten bzw. der Sudan das Gebiet für sich beanspruchen.
Völkerrechtlich ist es so, dass nach einer Unabhängigkeitserklärung wie der des Sudan im Jahr 1956 die Grenzen anerkannt werden, die bis zu diesem Zeitpunkt innerhalb des Gebietes galten, so Andreas Zimmermann, Professor an der Universität Potsdam auf TRAVELBOOK-Anfrage. In diesem Fall würde es bedeuten, dass der Grenzverlauf aus dem Jahr 1902 gilt: Bir Tawil gehöre demnach zu Ägypten, das Hala’ib-Dreieck zum Sudan. Aktuell müssten außerdem die Grenzverläufe gelten, die die Länder selbst in ihren offiziellen Karten verzeichnen. Aber auch da besteht ein Konflikt, da beide Länder unterschiedliche Grenzverläufe anlegen. Vieles kann also Heatons Pläne durchkreuzen.
Kolonialismus und Rassismus: Die schweren Vorwürfe gegen Heaton
Jeremiah Heaton war beim Militär, arbeitete als Lehrer, war im Bergbau tätig, bewarb sich zweimal als Kongressabgeordneter in seinem Heimatstaat Virginia, einmal als unabhängiger Kandidat, ein nächstes Mal für die Demokraten. Er arbeitet als Unternehmer, führt mehrere Patente in den USA und widmet sich aktuell komplett dem Riesenprojekt Bir Tawil. Nebenbei versucht er, eine neue Art von ansehnlichen und handlichen Pollern zu entwickeln, die hierzulande beispielsweise zum Schutz vor möglichen Anschlägen vor Weihnachtsmärkten oder Großveranstaltungen aufgestellt werden. Er möchte, wie er selbst wiederholt betont, Gutes tun.
Um so überraschender kamen für ihn die zahlreichen Anschuldigungen: Die Gründung seines Königreichs in Afrika sei ein imperialistischer Akt, er verfolge rassistische Absichten und habe nichts aus der Geschichte der Kolonialisierung gelernt, so die Kritiker. Heaton verteidigt sich vehement: „Die Definition von Kolonialisierung ist, wenn ein Staat ein anderes bewohntes Land für sich einnimmt und dort nach Belieben regiert und verfügt. Das ist definitiv nicht das, was ich mache. Zum einen hat Bir Tawil keine Einwohner, es ist eine verlassene, ungewollte Wüste. Zum anderen kategorisiere ich persönlich nicht nach Rassen“, sagt Heaton, „ich bin ein Mensch und meine Bemühungen eine positive Veränderung in der Welt bewirken zu können und damit anderen Menschen zu helfen, ist in meinen Augen eine erstrebenswerte Sache.“ Rassismus sollte im heutigen Zeitalter eigentlich keine Rolle mehr spielen und daher bedauere er es, dass Leute noch in diesen Kategorien denken würden, fügt er hinzu. „Manche Amerikaner können es sich gar nicht vorstellen, dass es irgendwo Land gibt, das einfach niemandem gehört. Dennoch glauben sie, die Sachlage verstanden zu haben und urteilen über meine Handlungen und Vorhaben.“
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Der Traum vom Disney-Film
Die Kritik an Jeremiahs Vorhaben wurde zu einem wahren Sturm gegen ihn, als Disney sich die Rechte an seiner Geschichte sicherte und einen Film drehen wollte. Die junge Prinzessin Emily sollte im Mittelpunkt stehen. Bir Tawil sollte darin keine allzu große Rolle spielen. Der Fokus sollte auf der Beziehung zwischen dem sich aufopfernden Vater und seiner kleinen Tochter liegen, die unbedingt eine Prinzessin werden möchte – und wie ihr Wunsch schließlich zur Realität wird. Aber dann standen die Kolonialismus-Vorwürfe wieder im Raum, es wurden Petitionen gegen die Produktion des Films gestartet. Das Land gehöre dem Sudan oder eben Ägypten. Und viele störten sich an dem Gedanken eines weißen amerikanischen Mädchens als Disney-Prinzessin in Afrika. Dabei plante Disney, so Heaton, den Film auf einer pazifischen Insel spielen zu lassen, es sollten Drachen und andere Fabelwesen darin vorkommen.
„Ich bin auch der Meinung, dass so mancher Disney-Film nicht den richtigen Ton getroffen hat, aber mir ging es hierbei vor allem darum, meiner Tochter ein einzigartiges Geschenk zu machen. Das möchten alle Eltern für ihre Kinder machen. Das wurde mir und meiner Familie genommen, die Möglichkeit deinen Kinder etwas besonderes zu hinterlassen, von dem noch Generationen später in meiner Familie gesprochen wird“, sagt Heaton. Doch aus diesem Wunsch wurde nichts: Disney reagierte auf die zahlreichen Proteste und stellte das Filmprojekt im Jahr 2015 ein.
Seitdem hat sich auch Jeremiah Heaton zurückgezogen und gibt kaum mehr Interviews. Doch so ganz ohne Öffentlichkeit möchte er doch nicht sein. Ein Filmteam aus Los Angeles begleitet ihn derzeit bei seiner Arbeit an seinem Bir-Tawil-Projekt. Das Ergebnis soll eine Dokumentation sein, die im besten Fall die Entstehung eines neuen Landes zeigt.