26. November 2024, 17:30 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
1852 geboren, 1927 gestorben und noch immer nicht verwest: Der Körper des buddhistischen Mönchs Daschi-Dorscho Itigelow, der in einem Kloster in der russischen Republik Burjatien aufgebahrt wird, lässt die Wissenschaft rätseln. Was es mit dem ungewöhnlichen Leichnam, zu dem Pilger aus aller Welt kommen, auf sich hat – und was ein Forensiker dazu sagt.
Noch heute sitzt er da, die Beine verschränkt, die Arme im Schoß, die Augen geschlossen, dabei ist er schon vor mehr als 80 Jahren gestorben. Wissenschaftler rätseln und Pilger verehren ihn – der buddhistische Mönch Daschi-Dorscho Itigelow ist ein Phänomen.
Einst lebte er in der russischen Republik Burjatien. Schon in jungen Jahren verkündete er laut einer Legende, dass er einmal Hambo Lama, das geistige Oberhaupt der dort lebenden Buddhisten, werden würde. Und er sollte recht behalten: 1911 wurde Itigelow zum Hambo Lama der Buddhisten in Burjatien ernannt. Sechzehn Jahre später verstarb der Mönch, angeblich während einer tiefen Meditation im Lotussitz. Noch vor seinem Tod kündigte er an, dass sein Körper nicht verwesen werde. Es wird behauptet, dass Itigelow im Lotussitz in einer Holzkiste begraben wurde. Vor seinem Ableben soll er seine Schüler angewiesen haben, ihn nach 30 Jahren wieder auszugraben, wie unter anderem die „Berliner Zeitung“ berichtet.
Wunder lange geheim gehalten
Da die Buddhisten während der Sowjetzeit verfolgt wurden, verzögerte sich eine öffentliche Exhumierung Itigelows jedoch und fand erst im Jahr 2002 statt. Als die buddhistischen Mönche Burjatiens den ehemaligen Hambo Lama das erste Mal ausgruben, bestätigte sich seine Ankündigung: Der Körper war tatsächlich in einem außergewöhnlich guten Zustand. Angeblich wurde Daschi-Dorscho Itigelow erstmals 1955 ausgegraben, doch wegen der kritischen Sicht der Regierung gegenüber der Religion hielt man das buddhistische Wunder bis 2002 geheim. Um sich die Unversehrtheit des Körpers bestätigen zu lassen, ließen die Mönche Wissenschaftler den Leichnam untersuchen.
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„Wir haben ihn äußerlich komplett untersucht, von Kopf bis Fuß“, sagt der Pathologe Juri Tampoleev in einem Beitrag des Kultursenders Arte. Er war einer der Wissenschaftler, der sich mit dem Körper befasste. Juri weiter: „Wir haben aber keinerlei Spuren von künstlichen Eingriffen festgestellt. Ich meine Einschnitte, Nähte oder Spuren von Spritzen – nichts davon wurde festgestellt.“ Itigelows Körper soll sich kaum von einem lebenden Körper unterscheiden. Obwohl schon seit 89 Jahren tot, weist der Körper angeblich die Merkmale eines seit gerade mal 36 Stunden verstorbenen Körpers auf.
Ist Daschi-Dorscho Itigelow tot oder in tiefer Meditation?
Seit 14 Jahren wird Itigelows Körper in einem Schrein in Ivolginsk ausgestellt. Buddhisten und Pilger können ihn hier zu besonderen Anlässen besuchen und ihren Glauben ausdrücken. Inzwischen ist Itigelow eine heilige Figur im Buddhismus der Region Burjatien. Viele glauben, dass er nicht tot ist, sondern sich vielmehr in einer tiefen Meditation befinde. Der neue Hambo Lama äußert sich in einem Beitrag des ZDF: „Die ganze Welt ist endlich, auch unser Geist. Aber Itigelow zeigt uns, dass die innere Welt des Menschen viel reicher ist, als wir denken. Viel reicher ist als die äußere, materielle Welt.“
In einer 2021 erschienenen Dokumentation von „TerraX“ wird Itigelows Leichnam zudem genauer beschrieben. Alexander Chatschaturow von der Chemisch-Technischen Universität Moskau schildert den Zustand des Körpers: „Er ist weder einbalsamiert, noch mumifiziert. Er hat weiche Haut, die dem Druck nachgibt, die Gelenke sind elastisch. Er reagiert auf die Umgebung. Nicht schnell, aber er reagiert. Ab und zu macht er den Mund auf, ab und zu die Augen.“
Das ZDF berichtet weiter, dass der Körper nun seit 86 Jahren ohne Stütze in der Lotuspose verweilt. Auch sein Blut soll noch vorhanden sein, jedoch nicht mehr ganz flüssig, sondern eher geleeartig. Untersuchte Gewebeproben unterscheiden sich angeblich kaum von dem Gewebe eines lebenden Menschen. Auch die Temperatur und das Gewicht des Glaskastens, in dem Intigelows Leichnam aufbewahrt wird, sollen sich immer wieder ändern. „Wenn ein System von sich aus aktiv ist, dann kann man sagen, es ist lebendig. Es ist eine Existenzform, von der wir nichts wissen, aber er ist lebendig. Das ist ein Fakt“, sagt Chatschaturow weiter.
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Die Wissenschaft widerspricht
Einige deutsche Wissenschaftler stehen der „Lebendigkeit“ des Körpers hingegen eher skeptisch gegenüber. TRAVELBOOK sprach mit dem bekannten Forensiker Mark Benecke, der den Fall Itigelows auch in seinem Buch „Dem Täter auf der Spur: So arbeitet die moderne Kriminalbiologie“ behandelt. Auf die Frage, wie es dazu kommen kann, dass ein Körper, der seit mehr als 80 Jahren tot ist, keine oder kaum Verwesungsspuren aufweist, antwortete Benecke: „Das ist Zufall. Der Körper ist teils ausgetrocknet, teils ist eventuell auch Fettwachs entstanden.“
So sieht es für Benecke zumindest auf den ältesten Fotos des Leichnames aus, die kurz nach der Exhumierung entstanden sind. Fettwachs, auch Wachsleiche genannt, entsteht, wenn der tote Körper sich in einem luftdichten Raum befindet. Die Verwesung wird gestoppt und körpereigene Fette bilden eine Schutzhülle um den Leichnam und das Innere des Körpers. So wird er von Bakterien, Selbstzersetzung und äußeren Einflüssen geschützt.
Zudem gibt Benecke zu bedenken, dass der Leichnam in Sibirien begraben wurde, wo bekanntlich ein eher kühles Klima herrscht. „Kälte wirkt auch erhaltend.“ Auch die elastische, weiche Haut sei nichts Ungewöhnliches, so der Forensiker. „Es könnte sich auch um eine Lösung, also um eine Flüssigkeit, handeln, die unter anderem bei Lenins Leiche in Moskau, der kleinen Rosalia in Palermo und anderen verwendet wurde. Sie kann die Haut geschmeidig halten, auch nach dem Tod.“ Für eine solche Behandlung sind auch keine Einschnitte oder -stiche nötig. Zur Verdeutlichung vergleicht Benecke die Haut Itigelows mit Leder: „Das ist auch weiche Haut von Wirbeltieren, die eben bearbeitet wurde.“
Viele Annahmen sind umstritten
Dass das Blut noch geleeartig vorhanden sein soll oder die Zellproben noch lebendige Bestandteile aufweisen könnten, betrachtet Benecke eher skeptisch. Es gäbe keine wissenschaftlichen Quellen, die das belegen würden. Benecke hat schon mehrere „Blutwunder“ untersucht, „und meist waren sie weniger rätselhaft, als es sich nach zehn Runden stiller Post und falschen Übersetzungen angehört hat“.
Auch dass der Leichnam auf seine Umgebung reagieren soll, kann sich Benecke nicht vorstellen. Lichtwechsel könnten dazu führen, dass man die Schatten als Bewegung fehlinterpretiert. „Bisher waren es immer reine Schatten-Effekte, wenn so etwas behauptet wurde. So auch bei der kleinen Rosalia Lombardo in Palermo.“ Dass der Leichnam keine Totenflecken aufweist, ist für Benecke ebenfalls kein Anzeichen dafür, dass er noch lebendig sein könnte. Die Haut auf den Fotos ist braun und mit Kleidung bedeckt, „da würde man diese frühen Leichenzeichen nicht sehen.“ Möglicherweise sind die Leichenflecken also einfach nicht mehr zu erkennen.
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»Wer eine Behauptung aufstellt, muss sie auch beweisen
Die Möglichkeit, dass Itigelow nur sehr tief meditiere und seinen Stoffwechsel extrem heruntergeschraubt hat, schließt der Forensiker aus. „Es gibt bisher kein Beispiel und keine Erklärung für so etwas. Die Wissenschaft funktioniert so, dass derjenige, der eine ungewöhnliche Behauptung aufstellt, diese auch beweisen muss. Bisher hat niemand etwas Derartiges beobachtet oder bewiesen.“
Zwar gibt es das Phänomen, dass Menschen ihren Stoffwechsel bewusst verlangsamen können, aber auch diese müssen nach einigen Tagen essen und vor allem trinken, so Benecke. Ein bekanntes Beispiel hierfür sei der Zauberkünstler David Blaine, der sich unter anderem sogar schon mal lebendig begraben lassen hat.
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Rechtsmediziner spricht von Scharlatanerie
Dass Itigelow noch in irgendeiner Form lebendig sei, sieht Benecke als ausgeschlossen. „Es ist mit dem Kenntnisstand aller Wissenschaften nicht vereinbar“, erklärt er. Auch Prof. Dr. Michael Tsokos, ehemaliger Direktor des Institutes für Rechtsmedizin der Charité, sagte TRAVELBOOK, dass er „trotz 25 Jahren Berufserfahrung als Rechtsmediziner und über 100.000 Leichen keine naturwissenschaftliche Erklärung“ für Itigelows angeblichen Zustand habe. „Mit anderen Worten: Ich halte das für Scharlatanerie wie Tränen blutende Madonnenstatuen und ähnlichen Quatsch, der in allen Religionen den Schwachen und Leichtgläubigen etwas vorgaukelt und sie damit in ihren Bann zieht – und das Geld aus der Tasche.“
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An Feiertagen können Interessierte den Leichnam von Daschi-Dorscho Itigelow besuchen
Auch ein Urlauber auf Tripadvisor schreibt, dass um viel Geld gebeten wird: „Was etwas stört, ist, dass man auf Schritt und Tritt um eine Spende gebeten wird oder etwas kaufen soll.“ Das Kloster sei aber dennoch einen Abstecher wert, so der User weiter: „Man erfährt sehr viel über Burjatien, den Buddismus in Russland und das Leben der Mönche.“ Interessierte können sich Daschi-Dorscho Itigelows Leichnam an buddhistischen Feiertagen ansehen, dann ist der Schrein für Buddhisten und Pilger zugänglich. Auch wenn man gerne abseits der typischen Touristenpfade reist, lohnt sich die umliegende Gegend: Nicht weit von Itigelows Standort entfernt liegt der tiefste und gleichzeitig älteste Süßwassersee der Welt: der Baikalsee. Umgeben von bewaldeten Berggebieten lohnt sich eine Reise zu dem See allemal. Die traditionelle Speise der Region, den geräucherten Baikal-Omul, kann man in einer der Städte, wie Listwjanka, rund um den Baikalsee bekommen.
Faszinierend bleibt der Fall Daschi-Dorscho Itigelow trotz aller Zweifel der Wissenschaft. Ob man in dem „lebenden Toten“ nun ein Wunder sieht oder das Thema rational aus einem wissenschaftlichen Blickwinkel betrachten möchte: Itigelows Fall ist speziell. Wie speziell könnten wohl nur weitere medizinische Untersuchungen beweisen. Die Mönche Burjatiens erlauben jedoch keine weitere Forschung – zu kostbar und heilig ist Itigelow für sie.