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TRAVELBOOK-Redakteur über die Lage in seiner Heimat

„Portugal zahlt hohen Preis für Corona-Schlitterkurs“

Straßenbahn, Eléctrico genannt, in Lissabon
Wann geht es wieder bergauf mit Portugal? Im Großraum Lissabon sind die Neuinfektionszahlen derzeit mit am höchsten. Die portugiesische Hauptstadt war bereits im Sommer eines der Zentren der Pandemie in Portugal. Foto: Getty Images
Nuno Alves
Chefredakteur

07.02.2021, 14:11 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten

Portugal gehört derzeit zu den am meisten von der Corona-Pandemie betroffenen Ländern. Nuno Alves, Editorial Director von TRAVELBOOK und selbst Portugiese, beobachtet die Gesundheitskrise aus der Ferne – und erlebt sie aus seinen Gesprächen mit seiner dort lebenden portugiesischen Familie dennoch sehr intensiv mit.

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„Wir haben hier alle Angst, es sind zu viele Corona-Fälle“, schreibt meine Tante. „Die Lage ist wirklich ernst“, sagt meine ansonsten immer optimistische Mutter am Telefon. Es sind Sätze aus erster Hand, die ich gut einzuschätzen weiß, weil sie ungewohnt dramatisch klingen und direkt aus Portugal kommen, wo das Virus sich derzeit so schnell ausbreitet wie nirgendwo sonst auf der Welt.

Portugal, im Frühjahr noch glimpflich, ja geradezu vorbildlich durch die erste Welle gekommen, verzeichnet im internationalen Vergleich zurzeit Rekordinzidenzen. Und das mit großem Abstand. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Situation in Deutschland sagt, „uns ist das Ding entglitten“, zu einem Zeitpunkt, an dem hierzulande die Sieben-Tagesinzidenz bei 111 lag – was ist dann in Portugal passiert, wo zur gleichen Zeit die Sieben-Tagesinzidenz 840 betrug?

Das Land hat die Kontrolle über das Virus verloren. Die in Deutschland viel gefürchtete Triage ist in Portugal teilweise bereits Realität. Immer mehr Corona-Patienten müssen intensivmedizinisch betreut werden, doch es fehlt an entsprechend ausgestatteten Betten. Kliniken müssen Covid-19-Kranke abweisen.

Warten Krankenwagen vor dem Krankenhaus Santa Maria in Lissabon
Vor dem Krankenhaus Santa Maria in Lissabon warten am 28. Januar Dutzende Krankenwagen v darauf, dass Covid-19-Patienten aufgenommen werden können Foto: Getty Images

Ich flehe meine Mutter an: „Gehe nicht raus!“

Beim Verfolgen der Nachrichten mache ich mir selbstverständlich Sorgen um meine Familie, zuallererst um meine Mutter, 72, Bluthochdruck- und Diabetes-Patientin. Sie sitzt in Portugal fest, allein in einem Haus, und kann derzeit nicht nach Deutschland. Und was noch schlimmer ist: Ich kann im Zweifel auch nicht so einfach zu ihr. Portugal ist Hochrisiko- und Virusvariantengebiet, es gilt ein Beförderungsverbot.

Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was wäre, wenn meine verwitwete Mutter die im Land kaum noch verfügbare medizinische Hilfe bräuchte. Und so flehe ich sie täglich an: „Gehe nicht raus! Verschanze dich wie bisher noch weitere Wochen oder gar Monate im Haus und warte, bis sich die Situation beruhigt hat.“ Aber wann mag das wohl sein?

Zwar glauben manche Experten, dass der Höhepunkt der Neuinfektionen bereits erreicht sein könnte – tatsächlich waren die Zahlen zuletzt etwas rückläufig –, aber der Druck auf das zusammenbrechende Gesundheitssystem dürfte in den kommenden Wochen konstant hoch bleiben, womöglich sogar zunehmen.

Wenn ich ehrlich bin, hatte ich nach der ersten Welle im Frühjahr nicht erwartet, dass Portugal in eine solche Situation hineingeschleudert würde. Immerhin hatte die Regierung frühzeitig drastische Maßnahmen verordnet, um eine Lage wie im hart betroffenen Nachbarland Spanien zu vermeiden. Ein harter Lockdown und sich bewusst und diszipliniert verhaltende Portugiesen machten Portugal zum Musterland im Umgang mit der Pandemie. In zahlreichen deutschen Medien erschienen positive Beiträge, Freunde sprachen mich darauf an und lobten, wie gut Portugal die Krise bewältige.

Die jetzige Situation ist die Folge der Nachlässigkeit von Regierung und Bürgern

Monate später ist Portugal zum Negativ-Beispiel geworden. Nach der Feriensaison 2020 stiegen die Fallzahlen an und verschlimmerten sich zusehends. „Es gab tatsächlich eine gewisse Nachlässigkeit im Sommer und vor allem in der Weihnachtszeit, eine Folge der allgemeinen Erschöpfung“, bestätigt mir Amílcar Correia, stellvertretender Direktor der Redaktion der renommierten Zeitung „Público“ und verantwortlich für den Online-Bereich. In der ersten Welle sei die Angst größer gewesen und die Bevölkerung sei zu Hause geblieben.

Amílcar Correia von der portugiesischen Zeitung „Público“
Amílcar Correia ist Stellvertretender Direktor der Redaktion bei „Público“, dort für den Online-Bereich verantwortlich und Reisebuchautor („A balada do Niger“) Foto: privat

In der aktuellen Situation empfindet Correia ein Gefühl der Müdigkeit, Besorgnis, des Hoffens, aber auch Überdrusses. „Mir machen auch die Folgen der Pandemie auf anderen Ebenen Sorgen, nicht auf der gesundheitlichen, sondern auch auf der beruflichen, psychologischen und sogar politischen. Die Beschränkungen tragen in gewissem Maße zu einer demokratischen Betäubung und zum Aufkommen von leugnenden Diskursen bei, die die Maßnahmen bei der Bekämpfung des Virus, die Wissenschaft und die Demokratie gefährden.“

Tatsächlich hat Portugals sozialistische Regierung um Premierminister António Costa zunehmend Probleme, ihren Umgang mit der Krise zu rechtfertigen. Und man fragt sich, warum die Politik nach dem Spätsommer so derart lasch, ja gar fahrlässig agierte? Selbst als die Infektionszahlen spürbar nach oben schnellten und andere Staaten in Europa bei vergleichsweise niedrigeren Corona-Zahlen bereits Lockdown-Maßnahmen ergriffen, durfte man in Portugal weiter in Cafés, Bars und Restaurants; die Einreise aus Risikogebieten blieb weitgehend erlaubt. Als Lehre sieht Amílcar Correia denn auch die Notwendigkeit einer besseren Vorbereitung der Gesundheitsbehörden, um Problemen vorzubeugen, und „dass sie in der Lage sind, sich im Hinblick auf die verschiedenen Szenarien der Ausbreitung des Virus und der Krankheit angemessen zu organisieren“. Das habe in dieser Phase bei der Reaktion der Regierung auf die Entwicklung der Infektionslage gefehlt.

Kaffeehaus „A Brasileira“ in Lissabon
Portugals Restaurants, Bars und Cafés sind zu, so wie hier das berühmte Kaffeehaus „A Brasileira“ im Herzen Lissabons Foto: Getty Images

Zu lange wurde versucht, die Wirtschaft nicht weiter zu schwächen

Es ist offensichtlich, dass man die ohnehin labile Wirtschaft nicht noch weiter schwächen wollte durch Einschränkungen wie im Frühjahr. Dieses Mal blieben Restaurants, Bars, Shops und andere Dienstleistungsbereiche, wo viele Portugiesen beschäftigt sind, lange offen. Statt auf effiziente Eindämmungsmaßnahmen setzte man offenbar vor allem auf das Prinzip Hoffnung. Man hoffte, dass sich die Fallzahlen wieder abschwächen würden, irgendwie. Man hoffte, dass man mit netten Appellen und einem letztlich ineffizienten Maßnahmenkatalog unbeschadet Weihnachten feiern könne. Und man hoffte, dass man am Ende vielleicht doch noch glimpflich davonkommen würde, so wie im Frühjahr. Alle Hoffnungen wurden zerschmettert. Nun zahlt Portugal den hohen Preis für den Schlitterkurs zwischen der Rettung der Wirtschaft und der Rettung von Menschenleben.

Aus der deutschen Ferne mag meine Kritik teils vermessen klingen. Schließlich steht Deutschland wirtschaftlich auf einem weitaus stabileren Fundament als das angeschlagene Portugal, das sich nach dem Eurokrisen-Knockout ab 2010 vor der Pandemie gerade erst wieder aufzuraffen begann. Auch für die portugiesische Regierung war klar: Corona zerstört nicht nur die Gesundheit und tötet Menschen, der Virus raubt vielen indirekt die Existenzgrundlage.

Ich weiß aus erster Hand, wie prekär die Lage in Portugal seit jeher ist. Sehr viele Portugiesen arbeiten für den Mindestlohn von aktuell 665 Euro. Ein großer Teil ist in den besonders stark von den Coronamaßnahmen betroffenen Wirtschaftsbereichen Gastronomie und Tourismus tätig. Für diese Menschen ist die jetzige Situation eine Katastrophe.

Dass die Regierung erst am 15. Januar 2021 den harten Lockdown beschloss, mag im Nachhinein zwar in Teilen so erklärbar sein. Aber es war kurzsichtig und fatal, so spät die Notbremse zu ziehen und den Familien ein gemeinsames Weihnachtsfest ermöglicht zu haben. Meine Cousine Tânia Alves, die als Krankenschwester in einer Langzeitpflegeeinrichtung in Guimarães in Norden Portugals arbeitet, macht der Regierung dahingehend auch Vorwürfe. Die Politiker seien zu nachgiebig gewesen. „Warum wurde das Risiko eingegangen, ein Weihnachten mit der Familie zu ermöglichen, wenn beim nächsten jemand nicht mehr dabei sein kann wegen dieser schrecklichen Krankheit?“, fragt sie.

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Schafft es Portugal, dass der Tourismus bald wieder boomt?

Nun blickt die ganze Welt auf das kleine Land, dass lange die Negativ-Statistiken anführte. Und die große Frage ist nun, wann und wie sich Portugal aus dieser vielschichtigen Krise rauswinden wird. Der Tourismus war immer eine wichtige Einnahmequelle, rund 8,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fielen auf diesen Sektor. Die Abhängigkeit von den Einnahmen aus diesem Bereich ist groß. Doch ob die Urlauber und vielen portugiesischen Auswanderer, die an Ostern und im Sommer normalerweise das Land besuchen, dieses Jahr nach Portugal kommen bzw. kommen können, ist unklar. Alles hänge derzeit von unbekannten und unvorhersehbaren Variablen ab, sagt Amílcar Correia, der auch Reisebuchautor ist, zu TRAVELBOOK, „von neuen Virusstämmen, der Entwicklung der Impfungen etc.“

Immerhin zeigt sich der langjährige Journalist optimistisch. Er glaube, das Land könne auch trotz der Krise die in den vergangenen Jahren aufgebaute touristische Infrastruktur aufrechterhalten. „Das Vertrauen in diesen Sektor ist da. Der Bau neuer Hotels wurde nicht gestoppt.“ Und Pandemien würden nicht ewig andauern. Letztlich handele sich nur um eine Frage der Zeit. Amílcar Correia zu TRAVELBOOK: „Portugal wird auch nach der Pandemie ein exzellentes touristisches Ziel bleiben, aus den gleichen Gründen, wie es auch vorher eines war.“ Gleichzeitig schränkt er ein: Was das Reisen angeht, so wird „dieser Sommer wohl noch nicht so sein, wie wir uns ihn idealerweise vorstellen“.

Themen Coronakrise Portugal
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