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Neve Tzedek – Tel Avivs Milliardärsviertel

Galerien, Graffitis, gemütliche Gassen – und im Hintergrund immer die Wolkenkratzer. Willkommen in Neve Tzedek!
Galerien, Graffitis, gemütliche Gassen – und im Hintergrund immer die Wolkenkratzer. Willkommen in Neve Tzedek! Foto: getty images/ C. Tomerius
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TRAVELBOOK Redaktion

16.11.2015, 10:36 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten

Kaum ein Stadtteil Tel Avivs hat so eine spannende Geschichte wie das Viertel Neve Tzedek. Gebaut, um Flüchtlingen aus aller Welt ein Heim zu bieten, sollte es Jahrzehnte später komplett abgerissen werden. Dann kamen die Künstler, die Ruhesuchenden und schließlich: die Millionäre. Denn neben aller Geschichte und Idylle glänzt Neve Tzedek auch noch mit der unmittelbaren Nähe zum Strand.

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„Wer Shimon Rokach nicht gesehen hat, mit seiner weißen Krawatte und seinem weißen, seidenen Kopfschmuck, hat in seinem Leben noch keinen jüdischen Prinz gesehen“, so beschrieb der Schriftsteller Moche Smilansky seinerzeit den Mann, der Neve Tzedek gründete. Shimon Rokach war natürlich kein Prinz, sondern ein einfacher Angestellter. Aber der schaffte es bald, nicht nur durch sein elegantes Äußeres Bewunderung auf sich zu ziehen, sondern auch für seine Art, wie er die Dinge anpackte.

Ursprünglich von Jerusalem nach Jaffa geschickt, um für die neue Eisenbahnstrecke zwischen den beiden Städten das Wegegeld zu kassieren, fand Rokach in der Stadt am Meer bald weitere Betätigungsfelder: So organisierte er etwa den Anbau und Export jener Orangen, die heute so berühmt sind, dass man auf der Welt den Namen „Jaffa“ vermutlich eher mit Apfelsinen in Verbindung bringt als mit der ältesten Stadt am Mittelmeer. Dabei galt Jaffas Hafen lange als das „Tor zum Nahen Osten“ – und war dementsprechend oft heftig umkämpft.

Zu Rokachs Zeiten, ab 1882, war die Hafenstadt Ziel und Endstation Hunderter jüdischer Einwanderer aus Osteuropa, die sich zumeist an Ort und Stelle auch niederließen. Bald wurde es unerträglich eng zwischen den historischen Mauern – und Shimon Rokach wusste, was er als Nächstes tun sollte: Vor den Stadttoren gründete er mit einigen Mitstreitern eine neue Siedlung. Und plante dort gleich selbst ein Haus. 1887 war das fertig – als eines der ersten zehn Häuser von Neve Tzedek , wie man den Ort bald nennen sollte: „Oase der Gerechtigkeit“.

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Kleine Synagoge in Neve Tzedek
Kleine Synagoge in Neve Tzedek. Foto: C. Tomerius Foto: C. Tomerius

Sein Haus hatte Rokach von einem Architekten aus Österreich bauen lassen, der das zweistöckige Gebäude – was ungewöhnlich war für die Zeit – mit einer kleinen Kuppel krönte. Auch die anderen Häuser sorgten für Aufsehen. Nicht nur, weil sie in der Regel über ein Bad verfügten, was als luxuriös galt. Überhaupt waren sie hochmodern. Später konnte man hier die ersten Häuser im Jugend-und Bauhausstil bewundern.

Neve Tzedek wuchs fast schneller als Rokachs Orangenplantagen – und zog viele Intellektuelle, Künstler und Literaten an. Samuel Agnon, der 1966 gemeinsam mit Nelly Sachs als erster hebräischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur bekommen sollte, lebte hier. Ebenso besagter Moche Smilansky, der etwa für den Literaturwissenschaftler Gershon Shaked der „herausragendste Dichter seiner Generation“ war. Und der Maler Nahum Gutman kam 1905 mit seiner Familie aus Odessa hierher. Da war er sieben.

Ursprüngliche Gasse in Neve Tzedek
Ursprüngliche Gasse in Neve Tzedek. Foto: C. Tomerius Foto: C. Tomerius

Als Gutman zehn Jahre alt war, begann man unweit von Neve Tzedek mit dem Ausbau der Siedlung Ahuzat Bayit zu Tel Aviv, der „ersten jüdischen Stadt“. Gutman hat Tel Avivs Entstehung von Anfang an beobachtet, begleitet und später in vielen Zeichnungen, Mosaiken und Gemälden dargestellt. Gern in fröhlichen Farben und mit naiv anmutenden Figuren – wie etwa auf dem Mosaik im Erdgeschoss des Shalom Meir Tower.

Als das 34-geschossige Bauwerk 1965 fertig wurde – er war nicht nur das höchste Gebäude Israels, sondern auch höher als die höchsten in Europa –, wies er die Richtung, in die Tel Aviv künftig wachsen sollte. Und zwar flächendeckend: Auch die in die Jahre gekommenen Häuser von Neve Tzedek, das schon lange zu Tel Aviv gehörte, sollten schließlich Wolkenkratzern weichen.

Blick aus dem Obergeschoss von Rokachs Haus auf das heutige Neve Tzedek und die benachbarten Hochhäuser
Blick aus dem Obergeschoss von Rokachs Haus auf das heutige Neve Tzedek und die benachbarten Hochhäuser. Foto: C. Tomerius Foto: C. Tomerius

Mit dem Stadtviertel war es ohnehin sukzessive bergab gegangen, je mehr sich Tel Aviv entwickelt hatte. Die Boheme war weggezogen, ihre Häuser standen leer – oder wurden zur Zuflucht für die Mizrahim-Juden, die nach 1948 aus Asien und dem Nahen Osten nach Israel kamen. Aus dem Stadtteil der Literaten und Künstler war ein Armenviertel geworden.

Doch es sollte noch gut 20 Jahre dauern, bis die Abrisspläne Gestalt annahmen. Zu dieser Zeit, Anfang der 1980er, kam Leah Majaro-Mintz, die Ur-Enkelin von Shimon Rokach, aus Jerusalem nach Neve Tzedek und erschrak, als sie das Haus ihres Ur-Großvaters sah. Es hatte 30 Jahre lang leer gestanden und war in einem erbärmlichen Zustand. Sie beschloss, es zu sanieren – und wie einst Rokachs Neubau, so hatte der Wiederaufbau durch Majaro-Mintz ebenfalls eine weitreichende Signalwirkung. Es sprach sich herum, dass sich in Neve Tzedek wieder etwas tat.

Leah Majaro-Mintz, die Ur-Enkelin von Shimon Rokach, in ihrem Atelier im Jahr 2011
Leah Majaro-Mintz, die Ur-Enkelin von Shimon Rokach, in ihrem Atelier im Jahr 2011. Foto: C. Tomerius Foto: C. Tomerius

Bald wurde überall in den Gassen gebaut und saniert, und die Leute, darunter auch viele Künstler, zogen wieder in die Häuser. So hatte die Ur-Enkelin zu neuem Leben erweckt, was der Ur-Großvater einst aus der Taufe gehoben hatte. Mehr noch: Sie rettete das von Rokach gegründete Viertel davor, dem Erdboden gleich gemacht zu werden. Denn mit der neuen Perspektive waren die Abrisspläne erst mal vom Tisch.

Das neue Herz von Neve Tzedek wurde bereits 1989 das Suzanne Dellal Center for Dance and Theatre. Auf einem ehemaligen Schulgelände war hier ein großzügiger Komplex mit Proberäumen und Theatersälen entstanden, in dem sich eine Tanztheatergruppe etablierte, die bald international Erfolge feierte. Vor dem Haus stehen Palmen Spalier, in den Gassen drumherum sind Galerien entstanden. Und: Cafés, Bars und Boutiquen. Das „Soho Tel Avivs“ wurde Neve Tzedek schon genannt.

Theater mit Leuchtturmfunktion: Suzanne Dellal Center for Dance and Theatre
Theater mit Leuchtturmfunktion: Suzanne Dellal Center for Dance and Theatre. Foto: getty images Foto: getty images

Und dann kam, was kommen musste. Oder wer zwangsläufig kommen muss, nachdem Künstler und Kreative einen Ort entdeckten und interessant machten: die Schönen, die Reichen, die Superreichen. 15 Milliardäre sollen sich in Neve Tzedek inzwischen eingekauft haben. Der schillerndste von ihnen ist wohl Milliardär und FC-Chelsea-Boss Roman Abramowitsch, der sich gleich ein ganzes Hotel, das hübsche Versano Hotel nämlich, gesichert hat, um es später zu seiner Privatresidenz umzubauen.

Erneut verändert sich das Viertel. Zumindest sind die Bauvorschriften streng – damit sich das architektonische Erscheinungsbild nicht genauso so rasant wandelt wie die Bevölkerungsstruktur. So müssen die Häuser hier zum Beispiel alle rote Dachziegel haben, das Fensterglas in Holzrahmen stecken, der Putz eine bestimmte Farbe aufweisen.

Historisches Haus in neuem Anstrich
Historisches Haus in neuem Anstrich. Foto: getty images Foto: getty images

Den ursprünglichen Charakter des Hauses zu bewahren, das hatte sich natürlich auch Leah Majaro-Mintz vorgenommen, als sie das Haus ihres Ur-Großvaters sanierte. Doch nicht genug: Sie hat gleich ein Museum daraus gemacht und Dinge aus dem Familienbesitz liebevoll arrangiert. Da hängen üppige Unterröcke aus Großmutters Zeiten neben alten Fotografien und Dokumenten. Und überall sitzen nackte Frauen herum.

Aus Ton sind sie, haben Hängebrüste und müde Blicke. Ihre Körper scheinen zu zerfließen, fast ergießen sie sich über die Stufen und Stühle. Mit ihren Figuren, für die sie in den 1980ern übrigens den Jerusalemer Skulpturenpreis bekam, wollte die Künstlerin, die auch als erste Feministin Israels gilt, auf die Situation der Frauen aufmerksam machen, auf die Anstrengungen und Kämpfe des Alltags. Und sie wollte ihnen eine Pause gönnen. So sitzen die Frauen also einfach nur rum, gucken und grübeln und – entspannen.

Auch im Innenhof des Hauses von Leah Majaro-Mintz sitzen ihre berühmten Tonfiguren
Auch im Innenhof des Hauses von Leah Majaro-Mintz sitzen ihre berühmten Tonfiguren. Foto: C. Tomerius Foto: C. Tomerius

Und man wünscht sich, sie könnten diese Gelassenheit bewahren angesichts der rapiden Veränderungen in ihrem Viertel. Denn ob die „Oase der Gerechtigkeit“, wie das Stadtviertel ja heißt, angesichts steigender Immobilien- und Grundstückspreise tatsächlich eine bleibt, darf bezweifelt werden.

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