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Dramatisches Leck!

Die unfassbare Geschichte dieses Atomlagers in der Südsee

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Robin Hartmann Autorenkopf
Freier Autor

24.05.2019, 16:41 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten

Auf einer Insel im Pazifik ist ein Atommüll-Lager undicht – soweit die Nachricht. TRAVELBOOK wollte mehr wissen und sprach zu dem Thema mit Experten. Dies ist die Geschichte einer unfassbaren Grausamkeit, die zwar schon weit zurück in der Vergangenheit liegt, aber bis in die Gegenwart nachwirkt.

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Hier und auf dem benachbarten Bikini-Atoll zündeten die USA zwischen 1946 und 1958 insgesamt 67 Atombomben – 43 davon detonierten auf den Inseln von Eniwetok, 14 direkt auf Runit. Laut „Süddeutsche Zeitung“ war die Sprengkraft dieser Bomben kombiniert so hoch, als hätte man über den Zeitraum von zwölf Jahren jeden Tag 1,6 Hiroshima-Atombomben gezündet. Vom nuklearen Fallout betroffen waren außerdem die beiden anderen nahen Atolle Rongelap und Utrik.

Auf Runit befindet sich noch heute ein grausiges Zeugnis dieser Zeit, nämlich eine oberirdische Deponie, genannt „Runit Dome“: Hier entsorgten die Verantwortlichen für die Atomtests 1979 mehr als 100.000 Kubikmeter strahlenden Müll, verseucht mit Plutonium. Die Rückstände wurden einfach in einen Bombenkrater geworfen und dieser dann eher notdürftig mit einer Decke aus einem halbem Meter dicken Beton verschlossen. Der darunter befindliche Inselboden wurde aber überhaupt nicht versiegelt, weshalb Uno-Generalsekretär Antonio Guterres jetzt warnt, das Lager drohe undicht zu werden.

Atommüll einfach im Meer versenkt

„Es ist schon lange bekannt, dass das Lager leckt“, sagt dagegen Bernd Franke, wissenschaftlicher Direktor und Gründungsmitglied des Institutes für Energie- und Umweltforschung in Heidelberg, zu TRAVELBOOK. Franke hat selbst ab 1988 im Auftrag des US-Innenministeriums bei mehreren Besuchen über Monate das Ausmaß des Schadens untersucht. Er sagt: „Dazu kommt ja noch, dass überhaupt nur 50 Prozent allen auf der Insel befindlichen Plutonium-Mülls in die Deponie gekippt wurden. Der Rest liegt bis heute frei herum und ist den Elementen ausgesetzt.“ Ein befreundeter Experte, der ebenfalls für die US-Regierung arbeitete, gehe sogar davon aus, dass sich in dem Lager weniger als zehn Prozent der noch vorhandenen radioaktiven Substanzen befinden. Dass Meerwasser ungehindert in das Lager eindringen könne, sei kein Geheimnis.

Noch schockierender: Vieles, was damals nicht in die Deponie passte, wurde einfach in die davor gelagerte Lagune entsorgt – im Übrigen weltweit nichts Ungewöhnliches, wie der „Atommüllreport“ zeigt: Demnach beteiligte sich sogar Deutschland 1967 an der Entsorgung radioaktiven Mülls im Atlantik, etwa 450 Kilometer vor der Küste von Portugal. Im Falle der Lagune von Runit lassen sich jedoch bis heute radioaktive Atome, die von dort stammen, bis hinein ins Chinesische Meer nachweisen, wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet.

Inselbewohner bewusst belogen

Selbst Experten wie Franke fällt es schwer, die möglichen Folgen durch das Leck im Atomsarg einzuschätzen. Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, sagt dazu auf Nachfrage von TRAVELBOOK: „Die Hauptgefahr ist, dass die Strahlung über die Nahrungskette zu den Menschen gelangt. Im Wasser ist diese Kette deutlich länger, und mit jedem Schritt reichert sich die Anzahl der Radionuklide, also der Spaltstoffe, an. Am Ende kann sie dann um ein Tausendfaches höher sein.“ Laut Pflugbeil könnten von einer solchen Katastrophe schlimmstenfalls die Menschen im gesamten Pazifikraum betroffen sein, die – wie die Bewohner von Eniwetok – von Fischfang leben.

Für die Inselbewohner, die damals zwangsumgesiedelt wurden, wäre das nur ein weiterer Schlag ins Gesicht von einer Regierung, die offenbar von Anfang an versuchte, die Folgen der Atombombentests zumindest herunterzuspielen. „Die US-Regierung hat überhaupt nur auf Druck von außen reagiert“, sagt Bernd Franke. „Die Bewohner der Inseln wurden über das wahre Ausmaß der Strahlenbelastung belogen. Die Berechnungen der zuständigen US-Behörde, des Department of Energy, waren bewusst manipuliert, ja gefälscht.“

Atomtest Marschallinseln
25. Juli 1946: Eine riesige Pilzwolke steht nach der Detonation einer US-Atombombe über den Marshallinseln

Entschädigungszahlung von 65 Millionen Dollar

Franke und seine Kollegen exhumierten damals unter anderem Knochen von Menschen, untersuchten Kokosnüsse, Fisch und andere Lebensmittel, um eine fundierte Strahlenexpositionsanalyse zu erstellen. Erst nachdem sie die korrekten Werte ermittelt hatten, die um ein Vielfaches höher lagen als die Angaben des Department of Energy, habe die US-Regierung eine Entschädigungszahlung von 65 Millionen Dollar bewilligt. „Das war einerseits eine sehr erfüllende Tätigkeit, denn ich habe dazu beigetragen, das Schicksal einiger Menschen zum Positiven zu wenden und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen.“

Andererseits sei es schlimm gewesen ein Volk zu erleben, das seine Heimat und seine Kultur verloren hatte, dessen gesamtes Sozialgefüge durcheinander geraten war. Paradox: Viele der Marshallesen leben heute in den USA, die größte Gemeinde von etwa 5000 Menschen befindet sich in Arkansas, wo viele in einer Schweineschlachterei arbeiten. „Es ist schwer für diese Menschen, gut bezahlte Jobs zu finden – sofern sie überhaupt welche finden“, sagt Franke.

Menschen als Versuchskaninchen

Besonders perfide war laut Franke das Vorgehen der USA nach den Atombombentests: „Man hat die Menschen dort ab 1959 bewusst wieder auf den Inseln angesiedelt, damit man an ihnen Beobachtungen machen konnte, wie sich die Strahlenbelastung auswirkt.“ In der Folge habe es viele Erkrankungen gegeben, besonders über die Luft hätten die Menschen mit Plutonium verseuchten Staub aufgenommen, der zum Beispiel in ihre Kochtöpfe gerieselt war oder sich auf den Tellern abgelagert hatte. So verließen die Einwohner des Bikini-Atolls 1978 nach einem sieben Jahre dauernden Wiederansiedlungsversuch endgültig ihre Inseln, 1985 folgten ihnen die Bewohner von Rongelap ins Exil.

Wie pervers und menschenverachtend die US-Wissenschaftler damals allem Anschein nach dachten, zeigt das Dokument der Versammlung eines medizinisch-biologischen Komitees im Auftrag der US-Atomenergie-Kommission von 1956, das TRAVELBOOK vorliegt – darin heißt es unter anderem über die Bewohner der Atolle: „Die Gegend (…) ist bei Weitem die am meisten verstrahlte auf der ganzen Welt, es wäre daher gut zurückzukehren, und relevante Umweltdaten zu sammeln (…) zum Beispiel eine Probe der menschlichen Aufnahme (radioaktiven Materials, die Redaktion), wenn Menschen in einer verseuchten Umgebung leben. Während es stimmt, dass diese Leute nicht leben wie (…) zivilisierte Menschen, stimmt es auch, dass sie mehr wie wir sind als wie Mäuse.“

Ein weiterer unfassbarer Umstand, dessen Umweltforscher Franke Zeuge wurde: „Um einer möglichen Krebserkrankung durch die Strahlenbelastung vorzubeugen, hat man zahlreichen Insulanern damals die Schilddrüsen herausgeschnitten. US-Wissenschaftler haben das durchgeführt, man sagte den Bewohnern lapidar, das sei jetzt eben notwendig. Die Betroffenen mussten fortan Hormone nehmen, das dürften so etwa 50 Menschen gewesen sein.“

Die USA interessiert das Problem nicht

In einem im Juni 1982 fertiggestellten Abschlussreport über die von 1972-80 durchgeführten Säuberungsarbeiten der Atolle durch die USA heißt es in der Einleitung: „Wir wünschen den Menschen von Eniwetok Gesundheit, wirtschaftliches Wachstum, Glück und Frieden im Land ihrer Ahnen.“ 1986 schlossen die Marshallinseln ein Assoziierungsabkommen mit den USA, das ihnen die Unabhängigkeit zusicherte, doch in einem Atemzug damit wurde die Verantwortung für den Runit Dome der Insel-Regierung zugeschoben. Genau darin sieht Franke auch das Problem: „Momentan interessiert das im US-Kongress niemanden. Irgendwo im Pazifik leben auf einer Fläche so groß wie Westeuropa gerade einmal 50.000 Menschen, dafür kann man keine Betroffenheit herstellen.“

Im Jahr 2000 schließlich sprach das von den Marshallinseln und den USA eingerichtete Nuclear Claims Tribunal den Menschen der Marshallinseln nach zehnjährigem Prozess einen Schadensersatzanspruch von insgesamt mehr als zwei Milliarden Dollar zu – das Resultat einer Sammelklage, wobei sowohl körperliche Schäden als auch materieller Verluste einkalkuliert wurden. Allein für das Eniwetok-Atoll wurde der Schaden auf 324 Millionen Dollar beziffert. Das Urteil liegt TRAVELBOOK vor. „Gezahlt wurden insgesamt nur 150 Millionen Dollar, der Rest aber nicht“, sagt Franke, der selbst damit befasst war, derartige Schadensersatzansprüche aufgrund von Landverlust zu berechnen. Die USA würden das Urteil schlicht nicht anerkennen.

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»Ich werde nie die Verzweiflung der Menschen vergessen

Doch was ist nun angesichts des leckenden Atommüll-Lagers zu tun? Franke sagt: „Den Krater neu abzudichten wäre keine solide Maßnahme. Man müsste ein ehrliches und unabhängiges Gutachten in Auftrag geben – was die zuständigen US-Behörden tun, ist ja nur für den PR-Effekt.“ Man müsse nun prüfen, wie viel Radioaktivität noch auf den betroffenen Atollen zu finden sei. „Dadurch wird die Wunde aber nicht geschlossen, es wäre höchstens ein Pflaster – die Spitze des Eisberges sozusagen.“

Aktuell ginge es vor allem darum, den Grad der Gefährdung und mögliche Gegenmaßnahmen einzuschätzen. „Man müsste das überwachen“, sagt Sebastian Pflugbeil von der Gesellschaft für Strahlenschutz. Er erinnert an die Fukushima-Katastrophe von 2011 und gibt zu bedenken, dass deren Auswirkungen heute möglicherweise sogar bis an die US-Westküste spürbar seien – es passierten aktuell dort „merkwürdige Dinge“. So habe es ein mysteriöses Massensterben bei Krabben gegeben, auch seien zahlreiche früher reiche Fischgründe mittlerweile leer. Ob dies nun tatsächlich mit Fukushima zusammenhängt, könne man aber nicht mit Sicherheit sagen. Bezogen auf die Atombombentests in der Südsee sagt Umweltexperte Franke: „Die USA haben uns eine Hypothek hinterlassen, die uns bis hinein in die Gegenwart belastet.“

Was empfindet der Wissenschaftler, wenn er an seine Zeit auf den Marshallinseln zurückdenkt? „Ich werde nie die Herzlichkeit dieser Menschen vergessen – und ihre Verzweiflung.“

Themen Südpazifik USA
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