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Verspätungen, Zugausfälle, Fahrräder auf der Oberleitung

Meine Chaosfahrt mit dem 9-Euro-Ticket

9-Euro-Ticket
Genervte Menschenmmassen am Bahnhof Bad Belzig, dem ersten von zahlreichen ungeplanten Halten. Zu diesem Zeitpunkt erschien die Reise mit dem 9-Euro-Ticket noch wie ein cooles Abenteuer. Foto: Robin Hartmann
Robin Hartmann Autorenkopf
Freier Autor

18.07.2022, 16:22 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten

Eine Fahrt mit dem 9-Euro-Ticket von Berlin nach Landshut in Bayern mag zunächst einmal klingen wie eine Art interessantes Experiment. Quasi umsonst einmal durch das halbe Land, nur mit Regionalzügen. TRAVELBOOK-Autor Robin Hartmann hat das Abenteuer gewagt. Ein Abgesang auf eine leider völlig gescheiterte Idee.

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Eigentlich hatte ich gehofft, diesen Artikel niemals schreiben zu müssen. Denn schon während ich die ersten Zeilen tippe, fühlt er sich an wie ein Nachruf. Ein Nachruf auf das durchaus positive Image, dass sich die Deutsche Bahn in den letzten Jahren sehr langsam, aber stetig bei mir aufgebaut hatte. Dann kam das 9-Euro-Ticket und meine glorreiche Idee, mit selbigem einmal von Berlin nach Landshut zu fahren. Kurz vor dem Wochenende. Während halb Deutschland Sommerferien hat. Ja, ich gebe zu, vielleicht war bei dieser Fahrt mit dem 9-Euro-Ticket das Chaos vorprogrammiert

Nun ist die Deutsche Bahn an sich ja durchaus zu vergleichen mit einem verhaltensauffälligen Kind. Im Grunde möchte es nur geliebt werden, weiß aber nicht so richtig, wie es das denn erreichen könnte. In der Konsequenz baut es permanent irgendwelchen Mist, frei nach dem Motto: Ärger ist auch eine Form von Aufmerksamkeit. In dem Fall der Ärger der Kunden, denn machen wir uns nichts vor: Reisen mit der Deutschen Bahn ist normalerweise ein Dauer-Reizthema. Mit dem 9-Euro-Ticket sollte zwar alles anders werden, doch bei mir persönlich ist dieser zarte Annäherungsversuch leider völlig daneben gegangen.

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Das 9-Euro-Ticket-Chaos beginnt

Dabei klang die Aufgabe zunächst durchaus machbar: Von Berlin nach Landshut, dreimal umsteigen, Fahrtzeit neuneinhalb Stunden. Bedenkt man, dass man mit der schnellsten Verbindung über München per ICE und einer Regionalbahn auch mindestens gute fünf Stunden für die Strecke braucht, klang das gar nicht so viel mehr, zumal wir mehrere hundert Euro für Hin- und Rückfahrt dank des 9-Euro-Ticket sparten. Von Berlin sollte es zunächst über Dessau nach Leipzig gehen, von dort weiter nach Hof und schließlich Landshut. Doch leider ging eigentlich so ziemlich alles schief.

Zunächst einmal ging es mit meiner Freundin frohen Mutes mit der Fähre Richtung Wannsee, von wo aus wir den RE7 nach Dessau nehmen wollen. Dieser fährt zwar, allerdings verspätet und, nicht ganz unwichtig, ohne Halt in Dessau. Da es sich bei diesem Zug aber um eine stündliche Verbindung handelt, lassen wir uns nicht schon so früh den Wind aus den Segeln nehmen, und steigen nach einer Stunde Wartezeit in die nächste Bahn. Diese ist natürlich bereits sehr gut gefüllt, denn es wollen ja jetzt noch mehr Leute nach Dessau.

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Kein Anschluss unter diesem Bahnhof

Doch auch dieser Zug kommt niemals dort an. Kurz vor Bad Belzig hallt eine der notorisch-verknisterten Ansagen durch die Zuglautsprecher, dass auch unsere Bahn leider nicht in Dessau halte. Begründung: Wir seien ohnehin bereits zu stark verspätet. Eine Logik, die sich gelinde gesagt nicht jedem erschließt, und so kommt erster Unmut auf, der sich noch steigert, als wir alle anderen, die auch noch nicht in Dessau sein können, auf dem Bahnhof in Bad Belzig zum Umsteigen wieder treffen. Und das sind, 9-Euro-Ticket sei Dank, auch an einem Donnerstagabend erschreckend viele.

Die Weiterreise in einer Art menschlicher Sardinenbüchse wird erträglich durch einen sehr unterhaltsamen Mitreisenden, der behauptet, der Verlobte der Fernsehmoderatorin Victoria Swarovski zu sein. Nach einer offenen Beziehung mit vielen Fehltritten vor allem ihrerseits hätten sie nun doch endlich eingesehen, dass sie füreinander bestimmt seien. Dafür habe er dann auch Jennifer Aniston und Sandra Bullock endgültig abgesagt, aber letztere sei für ihn ohnehin eher wie eine Schwester. Nun, nach vielen Querelen, würden sie dann also am 16. August endlich heiraten, obwohl seine aufblühende Hollywood-Karriere die Suche nach einem passenden Termin durchaus erschwert habe.

Ungefragtes Unterhaltungsprogramm

Auch der nächste Zug, von Dessau nach Leipzig, ist rappelvoll. Es ist so überfüllt, dass die Schaffnerin unterwegs Radfahrer abweisen muss, die in bester Tetris-Manier versuchen, sich zum Unmut aller anderen doch noch irgendwie reinzuquetschen. Eine Großfamilie verwechselt das Abteil mit ihrem Wohnzimmer und beginnt, über Lautsprecher mit jemandem zu telefonieren. Gott sei Dank endet für uns die Fahrt heute bereits in Leipzig. Meine Freundin hatte die sehr gute Idee, die ohnehin schon lange Strecke auf zwei Tage aufzusplitten. Auf diese Weise sehen wir uns mental besser gewappnet für alle noch folgenden Eventualitäten. Tagesfazit: Mit dem 9-Euro-Ticket gut zwei Stunden Verspätung auf einer Strecke, die eigentlich zweieinhalb dauern sollte.

Vorsichtig optimistisch geht es dann am nächsten Morgen in den Zug Richtung Hof. Dieser ist bereits bei Abfahrt sehr gut gefüllt. In einem Bereich hat sich eine Gruppe Azubis mit ihren zahlreichen Koffern derart verbarrikadiert, dass anfänglich nicht einmal der Schaffner zu seiner Fahrzeugkabine kommt. Nur widerwillig räumen die jungen Leute kurz den Weg frei. Allerdings erst, nachdem der Lokführer ihnen erklärt hat, dass man sonst schlecht losfahren könne. In der Folgezeit der Reise sehen es die Azubis als ihre erklärte Aufgabe an, dank ausschließlich über Schreien geführter Kommunikation den gesamten Zug zu unterhalten.

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Es geht gar nichts mehr

Ein durchaus angenehmer Nebeneffekt der Überfüllung ist aber, dass die Zugtoilette sehr sauber ist, was vor allem daran liegt, dass eigentlich niemand sie benutzen kann, der nicht einen Stehplatz direkt davor hat. Irgendwie ergattere ich zwischenzeitlich einen Sitzplatz, doch mein Knie und das meines Gegenübers kuscheln so heftig, dass ich schon nach kurzer Zeit wieder aufstehen muss.

Trotz der Überfüllung und der zahlreichen Halte sind wir pünktlich in Hof, wo ein wahrer Run auf den Anschlusszug einsetzt, der uns nach Landshut bringen soll. Durch eine günstige Position beim Aussteigen erwischen wir tatsächlich noch Sitzplätze in einem Abteil, und sind eigentlich frohen Mutes. Und das trotz der Tatsache, dass wir bereits bei Abfahrt wissen, dass unser Zug gar nicht in Landshut halten wird beziehungsweise kann, denn irgendein absoluter Vollprofi hat sich gedacht, es könnte doch lustig sein, ein Fahrrad auf die Oberleitung zu schmeißen. Seitdem geht zwischen München und Regensburg gar nichts mehr.

„Dafür sind wir nicht zuständig“

Beruhigt sind wir allerdings durch den Umstand, dass uns über Lautsprecher etwa alle fünf Minuten gebetsmühlenartig ein Schienenersatzverkehr mit Bussen ab Regensburg versprochen wird. Dieser würde uns dann nach Landshut und damit an das Ende unserer Odyssee mit dem 9-Euro-Ticket bringen. Außerhalb unseres sicheren Abteil-Kokons ist der Zug so brechend voll, dass man wiederum kaum die Toilette erreichen kann. Die Schlange davor erinnert dementsprechend dann auch an den Eingangsbereich einer Großraum-Diskothek. Doch egal, nur gute zwei Stunden bis Regensburg, und von da dann eben weiter mit dem Bus.

Doch in Regensburg wartet natürlich kein Bus auf uns Gestrandete. Mehrfache Anfragen bei genervten DB-Mitarbeitern am Schalter ergeben absolut nichts. Mehrfach fällt die Aussage „Können wir auch nichts machen, dafür sind wir nicht zuständig“. Die Deutsche Bahn erklärt sich also „nicht zuständig“ für von der Deutschen Bahn vorab versprochenen SEV.

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Ein kleines Happy End

In der Folge sammeln wir Versprengten uns wieder auf dem Bahnhofsvorplatz, Endstation Hoffnung. Vielleicht kommt der Bus ja später. Ein Haufen Desillusionierter, zusammengeschweißt durch persönliche Leidensgeschichten, die nun jeder möglichst theatralisch zum Besten gibt. Wer es hören möchte, wird auch Zeuge eines durch viele Schlachten gestählten Veteranen, der behauptet, so ein Chaos wie mit dem 9-Euro-Ticket habe es Anfang der 90er Jahre nach der Wiedervereinigung schon einmal gegeben. Die meisten starren aber einfach auf ihre Handys und suchen vielleicht dort den Bus, der in der Realität leider niemals kommt.

Dann, nach einer Stunde Wartezeit, der Griff nach dem letzten Strohhalm. Ein letztes Mal in einen Zug steigen, Endhaltestelle Neufahrn. Von hier soll es angeblich auch SEV nach Landshut geben. Eine Verheißung, auf die jetzt kaum mehr jemand etwas gibt, aber in Regensburg wollen wir auch nicht bleiben. Unterwegs dann die erlösende Durchsage, dass diese Busse tatsächlich existieren, und dass man, einmal angekommen, nur noch eine halbe Stunde auf sie warten müsse. Wer beschreibt unser ungläubiges Erstaunen, als dann bereits bei Ankunft in Neufahrn mehrere Großraumtaxis warten, angeheuert und bezahlt von der Deutschen Bahn höchstselbst.

Als ich einen DB-Mitarbeiter doch noch einmal ängstlich und misstrauisch frage, ob denn die Taxis für uns wirklich kostenfrei seien, sagt der mit einer so absoluten Selbstverständlichkeit „Selbstverständlich“, als wäre das nach unserer Irrfahrt mit dem 9-Euro-Ticket tatsächlich selbstverständlich. Und so endet die selbstgewählte Mammut-Reise schließlich mit einer Fahrt in einem klimatisierten Taxi. Für uns ist das Abenteuer 9-Euro-Ticket hier Gott sei Dank vorbei.

Themen: #amex Deutsche Bahn Deutschland
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