14. März 2020, 7:01 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Es gibt wohl nicht viele Menschen, die bei einer Reise in die Ukraine auch daran denken würden, den Tschernobyl-Reaktor zu besuchen. Der Journalist Jan Schneider hat es trotzdem gewagt – TRAVELBOOK erzählte er über den Neid der Daheimgebliebenen, Geigerzähler zum Ausleihen und Souvenirs aus der Todeszone.
Es gibt wohl kaum einen Ort auf der Welt, der so symbolisch für eine Katastrophe steht wie Tschernobyl – und kaum einen anderen, der solch eine morbide Faszination auslöst. Seit sich am 26. April 1986 im Reaktor Vier des Tschernobyl-Atomkraftwerks ein nuklearer Super-GAU ereignete, ist die gesamte Gegend um die ukrainische Stadt Prypiat Sperrgebiet – und wohl nur die wenigsten würden sie betreten, zumindest nicht freiwillig. Und doch hat der Journalist Jan Schneider auf einer Recherchereise durch die Ukraine genau das getan. TRAVELBOOK erzählt er, was er an diesem Ort erlebt hat und wie Tschernobyl heute aussieht.
„Ich war im Rahmen eines Drehs für einen Dokumentarfilm in der Ukraine“, erinnert sich Schneider. „Daher war der Entschluss schnell gefasst, dass wir uns den Ort der Nuklearkatastrophe ansehen und auch gerne dort drehen wollten.“ Doch kann jeder dort einfach so hereinspazieren? Schneiders überraschende Antwort: „Als Tourist ist es sehr einfach. Man bucht die Tour bei einem Veranstalter, wird mit dem Bus hingefahren und wieder abgeholt. Man muss nur einen Vorlauf von etwa 3-5 Tagen einplanen.“
Neid im Freundeskreis
Er wollte jedoch eine Drehgenehmigung, das Erlebte mit der Kamera festhalten: „Das war etwas komplizierter, und es wurden noch am Kontrollpunkt am Einlass einige Faxe, Mails und SMS geschrieben, bis wir wirklich reinfahren durften. Prinzipiell ist es aber einfacher, als ich es mir vorgestellt habe.“ Doch was bewegt einen Menschen, an den Schauplatz einer solchen Katastrophe zu reisen? „Hier war es einfach das Interesse einen Ort zu besuchen, von dem jeder schon gehört hat und von dem man auch das eine oder andere weiß, an dem aber nur wenige Menschen tatsächlich waren.“
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Wie reagierte sein Umfeld auf die Reise? Überraschenderweise vorwiegend neidisch, vor allem im Freundeskreis: „Dazu muss ich aber sagen, dass einige davon früher mit Leidenschaft ein Videospiel gespielt haben, bei dem ein Level in Tschernobyl zu absolvieren ist. Seitdem sind sie vom Reaktor und der verlassenen Stadt Prypjat mit dem verfallenen Freizeitpark fasziniert. Manche stehen aber auch einfach auf verlassene Orte.“ Sorgen habe sich vor allem die Familie gemacht, „ob das denn auch sicher sei und wie lange wir in der strahlungintensiveren Zone rund um den Reaktor sein würden.“ Mittlerweile seine Verwandten aber daran gewöhnt, dass diese Drehreisen eine gewisse Portion Abenteuer beinhalten. „Ich war in den letzten Jahren unter anderem auch in Tansania und Bolivien unterwegs und bin doch immer wohlbehalten heimgekehrt.“
„Als wäre die Zeit stehen geblieben“
Doch wie ist es, einen solchen Ort tatsächlich zu betreten, dem sich wohl die meisten nicht einmal auf 100 Kilometer nähern würden? „Ein paar Bedenken hatte ich natürlich. Der Reaktor strahlt ja noch immer, und auch wenn seit Kurzem der riesige Sarkophag über dem Unglücksort in Betrieb genommen wurde, konnte ich mir nicht vorstellen, dass damit plötzlich alle Strahlung abgeschirmt wird. In einer Broschüre, die man am Eingang bekommt, wurden mir meine Ängste dann ein Stück weit genommen. Ein Tag in Tschernobyl hat in etwa die gleiche Strahlenbelastung wie eine Stunde im Flugzeug. Einmal Röntgen hat eine 160-Mal höhere Strahlenbelastung. “
Insgesamt fünf Stunden hielt sich Schneider in der Sperrzone auf, filmte und kam tatsächlich bis auf etwa 100 Meter an den damals explodierten Reaktor heran. Auch die benachbarte Stadt Prypiat konnten sie besuchen: „Dort stehen das bekannte Riesenrad, ein Autoscooter und jede Menge verlassene Hochhäuser. Da wird einem erst richtig bewusst, wie plötzlich die Menschen ihre Heimat verlassen mussten, wenn sie es überhaupt noch geschafft haben. Es ist, als wäre die Zeit einfach stehengeblieben.“
Überraschende Erkenntnisse
Eine Art Verzichtserklärung für seinen Besuch musste Schneider nicht unterschreiben: „Ich hatte erwartet, eine lebensfeindliche Geisterstadt zu besuchen, aber stattdessen war es eher ein Paradebeispiel, wie sich die Natur Orte zurückholt, die der Mensch verlassen hat.“ Skurril fand er den Verleih von Geigerzählern, mit denen man genau habe sehen können, „welche Gegenstände wie stark verstrahlt sind“. Ähnlich bizarr fand er Menschen, die an diesem Ort Selfies knipsten: „Auf der anderen Seite bleibt so die Erinnerung an das Unglück bestehen. Also lieber Selfies, als sich gar nicht damit auseinanderzusetzen.“ Im Übrigen habe er bei seinem Besuch viele Reisegruppen gesehen.
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Tschernobyl-Tassen als Souvenir
Nach dem Aufenthalt mussten er und seine Crew sämtliche Kleidungsstücke und Gegenstände, die sie an diesem Tag bei sich hatten, gründlich abwaschen, das sei aber auch schon alles gewesen – im Fall der Gruppe Schuhe, Füße und Kamerastative. Sein Kollege nahm dann für seine Kinder noch zwei Tschernobyl-Tassen mit, ihm selbst war das „etwas zu viel Tourismus für einen solchen Ort.“
Würde Schneider eine solche Reise wiederholen oder gar weiterempfehlen? Der Journalist sagt dazu: „Ob es empfehlenswert ist finde ich sehr schwer zu sagen, es spricht aber in jedem Fall für mich nichts gegen einen Besuch: Wer sich dafür interessiert, und etwas über Tschernobyl und die Geschichte nach dem GAU erfahren möchte, sollte einfach mal hinfahren. “ Lachend fügt er hinzu: „Kiew im Sommer ist auf jeden Fall auch eine Reise wert.“
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Gefährlich sei ihm seine aberwitzige Reise auch im Nachhinein nicht vorgekommen – er stellt aber auch klar: „Man sollte sich an die Regeln halten. Sich ohne Genehmigung irgendwo einzuschleichen ist keine gute Idee.“