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In verlassener Klinik in New York entdeckt

Die Koffer der vergessenen Seelen von Willard

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Angelika Pickardt
Redaktionsleiterin

10. Januar 2017, 16:11 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten

In New York eröffnete Mitte des 19. Jahrhunderts eine Nervenheilanstalt, das Willard Asylum for the Insane. Wer hierherkam, so heißt es, blieb bis zu seinem Lebensende. Als die Anstalt 1995 schloss, machten Arbeiter eine unglaubliche Entdeckung: Auf dem Dachboden lagen mehr als 400 alte Koffer von Patienten, die einst hier gelebt hatten und längst verstorben waren. Ein US-Fotograf hat die Koffer und ihren bewegenden Inhalt fotografiert. TRAVELBOOK gibt einen Einblick in die Hinterlassenschaften der Vergessenen und erzählt die Geschichte der Heilanstalt.

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Wer am Fuße des kleinen Hügels am Seneca Lake in Willard (US-Bundesstaat New York) steht und über den See blickt, wird kaum bemerken, dass er sich gerade auf einem Friedhof mit Tausenden Gräbern befindet. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckt man unter dem hoch wachsenden Gras eine Vielzahl kleiner, runder Steinplatten, jede von ihnen mit nichts als einer Zahl versehen.

5776 namenlose Menschen liegen hier begraben. Es sind die anonymen Gräber der früheren Bewohner des nahe gelegenen Willard Asylum for the Insane, einer Nervenheilanstalt, die 1869 eröffnete und einst die größte der USA war. Seit 1995 ist die Klinik, die später in Willard Psychiatric Center umbenannt wurde, geschlossen, die übrig gebliebenen Gebäude verfallen langsam.

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Einmal im Jahr, immer im Mai, können Besucher das Gelände und einen Teil der alten Klinikeinrichtungen besichtigen. Eine alte Bowlingbahn ist hier noch zu sehen, ein paar alte Patientenzimmer und ein Behandlungsraum mit OP-Tisch. Und die typischen langen Klinikflure, in denen sich vor dem inneren Auge Szenen abspielen, wie es früher hier wohl zugegangen sein mag. Das Video oben, gedreht von einem Besucher, zeigt den verlassenen Ort heute.

„Entstellt und verrückt“

Gut hatten es die Bewohner des Willard Asylum for the Insane nicht immer. Vor allem über die Anfangsjahre liest man viele Horrorgeschichten von sich selbst überlassenen, eingesperrten und gar angeketteten Patienten, die mit fragwürdigen Methoden wie Elektroschocks oder Ähnlichem „behandelt“ wurden. Später dann, als die Psychiatrie mehr und mehr als medizinisches Fachgebiet anerkannt wurde, besserte sich die Situation zunehmend.

Die erste Patientin, die am 13. Oktober 1869 nach Willard kam, war Mary Rote. An den Handgelenken gefesselt brachte man sie per Boot über den Seneca Lake zur Klinik. „Entstellt und verrückt“ soll sie gewesen sein, heißt es in einem später veröffentlichten historischen Bericht über das Willard Asylum. Nach Mary Rote folgten Tausende weitere US-Bürger, die man für geisteskrank hielt. Bereits 1877 war das Willard Asylum die größte Nervenheilanstalt der USA, bis zu 4000 Patienten gleichzeitig waren dort untergebracht. Während der fast 150 Jahre, in denen die Klinik in Betrieb war, lebten insgesamt 50.000 Männer und Frauen mit psychischen Erkrankungen dort.

Das Hauptgebäude des Willard Asylum vor the Insane Anfang des 20. Jahrhunderts
Das Hauptgebäude des Willard Asylum vor the Insane Anfang des 20. Jahrhunderts Foto: dpa picture alliance

Wer nach Willard kam, ließ sein altes Leben hinter sich. Nur wenige Habseligkeiten durfte jeder Patient mitbringen, einen Koffer mit etwas Kleidung, ein paar Fotos, und was einem sonst noch besonders am Herzen lag. Vor allem in den ersten Jahrzehnten war es üblich, dass die Patienten eine lange Zeit in der Anstalt blieben. Die durchschnittliche Unterbringungszeit betrug 30 Jahre, mehr als die Hälfte der Patienten blieb bis zu ihrem Lebensende.

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Wenn sich nach dem Tod eines Patienten kein Verwandter meldete – und das war leider oft der Fall – bestattete man dessen sterblichen Überreste in einem anonymen Grab auf dem Klinikgelände. Die Geschichte dieser damals von der Gesellschaft ausgeschlossenen Menschen hätte damit zu Ende sein können, kaum noch jemand hätte sich nach ihrem Tod überhaupt noch an sie erinnert.

Doch 1427 wurden am Ende gezählt. Es waren die Koffer derer, die im Willard Asylum verstorben waren – offenbar hatten es die Klinikmitarbeiter nicht übers Herz gebracht, die persönlichen Gegenstände ihrer ehemaligen Patienten einfach wegzuwerfen.

Willard Asylum
Der Dachboden mit den Koffern, aufgenommen im Jahr 1995 Foto: Lisa Rinzler

Und zum Glück entschied man sich auch jetzt dagegen, die inzwischen antiken Koffer und ihren bewegenden Inhalt einfach zu entsorgen. Laut einem Bericht von „USA Today“ kontaktierte eine der früheren Klinikmitarbeiterinnen nach der Entdeckung das New York State Museum, welches sich bereit erklärte, die Fundstücke in seine Obhut zu nehmen. 2004 zeigte das Museum einen Teil der Koffer bei einer großen Ausstellung in Albany, 2014 waren sie nochmal in San Francisco zu sehen.

2011 hat der US-Fotograf Jon Crispin damit begonnen, jeden einzelnen Koffer und die teils sehr persönlichen Dinge darin zu fotografieren. Sein Anliegen sei es, die einzigartige Sammlung einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, sagt Crispin auf TRAVELBOOK-Nachfrage. „Ich glaube, dass die Koffer und ihre Inhalte mehr über diese Menschen erzählen, als es ihre Krankengeschichte je wird können. Ich sehe eine andere, eine viel persönlichere Seite derer, die einen Teil ihres Lebens in Willard verbracht haben, und das möchte ich in meinen Fotos transportieren.“

Fotos, künstliche Blumen und ein Wecker: Die Koffer erzählen aus dem Leben der Verstorbenen
Fotos, künstliche Blumen und ein Wecker: Die Koffer erzählen aus dem Leben der Verstorbenen Foto: Jon Crispin

Inzwischen hat Jon Crispin einen Buchband mit 32 seiner besten Fotografien veröffentlicht, finanziert durch Crowdfunding. Wer einen solchen Bildband erwerben möchte, kann den Fotograf über seine Website kontaktieren. Hier sehen Sie – neben den Bildern in unserer Galerie oben – auch weitere Fotos aus Crispins Reihe „Willard Suitcases“.

Die jährliche Tour auf dem Gelände des ehemaligen Willard Asylum for the Insane wird von der Romulus Historical Society organisiert. Bei Interesse fragen Sie am besten selbst nach dem nächsten Termin und lassen sich schon vorab auf die Besucherliste setzen. Der Friedhof ist jederzeit frei zugänglich.

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